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Radio – Internet
zwei "neue Medien", die Literatur und ihre Theorie

(Cornelia Neudert)

 

1. "Wo blieb der Raum? Wo blieb die Zeit?" – eine Parallele
2. "Bedauerlich" – zwei gefloppte Wettbewerbe
3. "Die Abgründe der Spekulation" – die Theoriedebatte und ihre Mythenbildung
3.1. "Und alles kommt zu allen" – Demokratie!
3.2. "Überall in der Welt bin ich" – Freiheit!
3.2.1. Befreiung durch Netzliteratur
3.2.2. "Der Leser als Produzent"
3.3. "Mit kurzen Ladezeiten" - Regelpoetik
4. "Wir werden sehen" - Definitionsbedarf

1. "Wo blieb der Raum? Wo blieb die Zeit?" – eine Parallele

[...]
Alaska ist neben mir und China,
Die Stadt an der Seine und die Städte an der Newa,
Städte im Untergang und Städte im Anfang,
Rom und Sao Paulo.
[...]
Überall in der Welt bin ih in dieem Augenblick [..].

Was soll das sein?
Ein begnadeter Dichter reimt begeistert übers Internet?
Mit einem Klick von Rom nach Sao Paolo.
Mit der ganzen Welt in Verbindung stehen.
"Global village".

Aber nach dem Surfen dann plötzlich die Erkenntnis:

[...]
Wo blieb der Raum? Wo blieb die Zeit?
Sie scheinen wie verfallen,
Das Ohr sucht weit, das Auge weit,
Und alles kommt zu allen.

Doch schaust Du auch den Bruder an,
Der Du die Fernen siehest?
Lauschst Du auf seinen Herzschlag dann,
Der Du das Nahe fliehest?
[...]

Gefahr!
Der Mensch entfremdet sich von seiner Umwelt!
Soziale Kontakte werden vernachlässigt!
Er verliert sich im Netz!

 Die Vorwürfe gegen das Internet, es würde den Menschen von der Realität entfremden, sind zwar mittlerweile schon wieder etwas leiser geworden, sie machen jedoch auf eine Parallele aufmerksam, die einer näheren Betrachtung durchaus wert ist.
Die zitierten Gedichte stammen nämlich nicht aus der Debatte über das Internet, sondern sie beziehen sich auf eine anderes Medium, das zu seiner Zeit genauso "neu" war und anfangs mit ebensoviel Skepsis betrachtet wurde: das Radio.
 
   (Natürlich läßt sich die Parallele Radio - Internet nur bis zu einem bestimmten Punkt ziehen. So geht das Radio rein mit akustischen Signalen um, während das Internet akustische und visuelle - sowohl Bilder als auch Schrift - verbindet. Wichtiger noch ist, daß das Radio primär eine eingleisige - also keine "echte" - Kommunikation ermöglicht (nur vom Sender zum Hörer), das Internet hingegen als wirkliches Kommunikationsmedium genutzt werden kann.
Auch sind historische und sozialgeschichtliche Bedingungen, die mit dem Erscheinen der neuen Medien verbunden sind, völlig verschieden.
Aber soweit sich die Parallelen sinnvoll ziehen lassen, will ich es versuchen, mit dem eigentlichen Ziel, die Theoriedebatte für die "Netzliteratur" aus einem etwas anderen Blickwinkel zu beleuchten.)
In den 20er und 30er Jahren erschienen nach und nach immer mehr Radios in den deutschen Wohnzimmern. Im Oktober 1923 wurde in Berlin die erste Sendestation eröffnet. Zu Beginn des Jahres 1924 gab es in Deutschland 1580 Rundfunkhörer, am 1. Juli 1924 waren es hingegen schon 100.000. Im Januar 1926 waren es eine Million.
Gleichzeitig entspann sich eine rege Debatte darüber, wie denn dieses neue Medium für die Kunst - insbesondere die Literatur - zugänglich gemacht werden könne und solle.Diese Theoriedebatte wiederum ähnelt in mehreren Punkten der um die "Netzliteratur" – was auch immer man im Moment darunter verstehen mag.
Bevor ich jedoch auf diese Debatte eingehe, möchte ich kurz skizzieren, auf welche Probleme diejenigen stießen, die sich ganz euphorisch auf die Suche nach der "neuen" Literatur machten.
 

2. "Bedauerlich" – zwei gefloppte Wettbewerbe

Man könnte überspitzt feststellen: Ein neues Medium taucht auf und schon wird krampfhaft nach neuen literarischen Formen gesucht.
Vor allem Autoren, die sich in den "alten" Medien bereits einen Namen gemacht haben, werden - oder fühlen sich - angehalten, sich über diese "neue" Literaturform Gedanken zu machen (z.B. Projekt "Null"). Mittel zum Zweck ist jeweils ein Preisausschreiben:

1927 veranstaltet die Reichs-Rundfunk-Gesellschaft ein Preisausschreiben für Hörspiele,

"Das Preisausschreiben hat den Zweck, weitere Kreise von Schriftstellern auf die Bedeutung unds Notwendigkeit besonderer Rundfunkspiele aufmerksam zu machen und dadurch den Gedanken des Hörspiels zu fördern."

(Der Deutsche Rundfunk, Heft 5 / 1927, S. 293)

1996 initiieren die ZEIT und IBM einen Wettbewerb für "Netzliteratur".

 "Ziel des Wettbewerbs war es, die ästhetischen und technischen Mittel des Internets einzusetzen, um Sprache zu gestalten und neue Ausdrucksformen zu entwicklen."

(Sabrina Ortmann: Neu? Netzautoren. Erschinungsformen der Literatur im Internet)

Die Ergebnisse beider Wettbewerbe sind überraschend ähnlich: Enttäuschung auf allen Seiten.
Keine Prämierung 1927.
Kein erster Platz 1997, stattdessen nur zwei zweite.
Die ernüchterten Schlußfolgerungen lauten sehr einstimmig:

"Bedauerlich ist, daß auch dieses Preisausschreiben und tatsächlich, wie die Nachfrage ergeben hat, die Auffassung der Reichs-Rundfunk-Gesellschaft von einer falschen Einstellung ausgehen. Vorhandene Dichterwerke geben auch hier wieder Maßstab und Richtlinien. Man übersieht, daß man es mit völlig neuen Ausdrucksmitteln zu tun hat."

(Hans S. von Heister: Um ein Hörspiel. Randbemerkungen zum Preisausschreiben der Reichs-Rundfunk-Gesellschaft. In: Der Deutsche Rundfunk, Heft 7/ 1927, S. 437)

 "Die Suche nach dem Neuen in den Netzen leidet immer noch darunter, daß viele, die ihr nachgehen, Ausschau halten nach dem, was sie kennen und in dem neuen Medium und im Gewand der neuen Technik wiedererkennen können. Sie suchen also in Wirklichkeit nach etwas Altem."

(Michael Charlier: Was ist neu in der Netzliteratur? Referat zum 3. Internet-Wettbewerb)

3. "Die Abgründe der Spekulation" – die Theoriedebatte und ihre Mythenbildung

Die theoretische Diskussion hat sich auf die Suche nach dem wirklich "neuen" gemacht. Allerdings werden weniger die tatsächlichen Formen und Möglichkeiten der neuen Medien für die Kunst angesprochen, sondern eher hochfliegende Gedankenspielereien verfolgt.

Alfred Polgar spricht in den 30er Jahren von den "Abgründen der Spekulation".  "In jedem Raumpunkt wäre also die Totalität der Erscheinungen [...] virtuell vorhanden! Eine erschütternde Vorstellung, die jeden, der philosophisch zu denken versteht (mich also leider nicht), in die Abgründe der Spekulation führen muß."

3.1. "Und alles kommt zu allen" – Demokratie!

Der erste Mythos ist der vom "demokratischen Medium". Das wird für das Radio schon in dem oben zitierten Gedichtabschnitt deutlich, wenn es heißt: "Und alles kommt zu allen".
Rainald Goetz spielt mit dem Titel "Abfall für alle" seines Online-Tagebuches auf diesen Punkt an.
Ich habe allerdings keinen Anteil an dieser ach so überreichen Fülle, wenn ich kein Radio oder keinen Internetanschluß habe. So werden sicher noch auf längere Zeit große Teile der Erde vom "Netz" ausgeschlossen bleiben. Und selbst wenn ein Internetanschluß vorhanden ist, hat längst nicht jeder die Fähigkeit, aus dem unübersichtlichen Wust genau das herauszufischen, was für ihn wichtig ist.

3.2. "Überall in der Welt bin ich" - Freiheit!

Der zweite Punkt hängt eng mit dem ersten zusammen. In "demokratischen" Medien ist selbstverständlich jeder frei. Der Verfasser des obigen Gedichts fühlt sich mit Hilfe des Radioapparats "überall in der Welt". Als ich vor etwa fünf Jahren zum ersten Mal "surfte", war ich auch ganz begeistert, plötzlich in Rom "zu sein" oder in Portland. Aber letztendlich macht es doch keinen großen Unterschied. Oder?

3.2.1. Befreiung durch Netzliteratur

Speziell die "Netzliteratur"-Debatte kennt zusätzlich noch viele andere Aspekte von Freiheit - oder besser: von "Befreiung". Da gibt es die "Befreiung vom linearen Erzählen", die "Entmachtung des Autors" , die Befreiung des Autors von seinem Verleger, "keine Hierarchisierung [mehr] zwischen Primär- und Sekundärtexten" und natürlich die Freiheit des Lesers, sich aktiv an der (Mit-)gestaltung des Textes zu beteiligen.
Sicher sind einige dieser Punkte durchaus wert, daß man über sie nachdenkt. Wie steht es beispielsweise mit dem linearen Erzählen? Gibt es hier nicht tatsächlich Auflösungserscheinungen (vgl. "Riven")?
Auch, daß sich der Autor von seinem Verleger befreien kann, indem er seine Texte übers Internet direkt vertreibt, sowie der Tatsache, daß Primär- und Sekundärtexte enger miteinander verknüpft sind, so daß man sicher manchmal nicht mehr sagen kann, welcher welcher ist, sind einzusehen.
Der Punkt "Entmachtung des Autors" hängt zusammen mit dem des "Lesers als Produzent", auf den ich detaillierter eingehen muß.

3.2.2. "Der Leser als Produzent"

Was die aktive, freie und schöpferische Mitgestaltung des Lesers am Text betrifft, so lassen sich durchaus derartige Modelle vorstellen.
Schon Brecht hatte in seiner Radiotheorie 1930 die Idee, den "Rundfunk aus einem Distributionsapparat in einen Kommunikationsapparat zu verwandeln". Er forderte "eine Art Aufstand des Hörers, seine Aktivisierung und seine Wiedereinsetzung als Produzent." Er versuchte auch tatsächlich mit dem Hörspiel "Ozeanflug", seine Idee zu verwirklichen. Für das Radio blieb dies jedoch Utopie. Mußte es wohl auch, da das Radio nur eine einsträngige Kommunikation vom Sender zum Empfänger ermöglicht.
Mit dem Internet ist eine beidseitige Kommunikation möglich. Der Empfänger kann gleichzeitig zum Sender werden. Also kann tatsächlich der Leser zum Autor werden.
Praktisch sieht es jedoch im Moment meist so aus, daß der Leser nur soweit als Autor mitarbeiten darf, wie ihm erlaubt wird. Beispielsweise wird bei der "Aaleskorte" behauptet, man könne sein eigenes Drehbuch zusammenstellen. Im Endeffekt klickt man blindlings herum, ohne eigentlichen Einfluß auf die Geschichte an sich. Was bei Brechts Entwurf – nebenbei gesagt – ja nicht anders war.

3.3. "Mit kurzen Ladezeiten" - Regelpoetik

In der Diskussion über die "Netzliteratur" wird also oft und gern über "Freiheit" und "Befreiung" gesprochen. Manche Aspekte können ja auch tatsächlich als solche begriffen werden. Gleichzeitig mit der Propagierung dieser "Befreiungen" wird jedoch in Bezug auf die Literatur oft eine strikte Regelpoetik angewandt. Obwohl kaum jemand brauchbare Definitionen liefert, scheint doch jeder Theoretiker eine ganz strikte Vorstellung davon zu haben, was "Netzliteratur" ist (obwohl er meist nicht sagt, was).

 Hieraus resultiert wohl auch die anfängliche Enttäuschung über das Ergebnis des Wettbewerbs.

"So suchte und sucht die Ars Electronica im Net nach der Videokunst, die Hamburger Kunsthalle suchte dort im letzten Jahr zusammen mit dem SPIEGEL nach der Konzept-Art [,] die ZEIT suchte mit IBM nach der Literatur und ich habe mitgesucht."

(Michael Charlier: Was ist neu in der Netzliteratur? Referat zum 3. Internet-Wettbewerb)

Ein deutliches Beispiel zum Thema Regelpoetik liefert auch Sabrina Ortmann. In ihrem Aufsatz "Neu? Netzautoren. Erscheinungsformen der Literatur im Internet" wird sie zwar dem eigenen Anspruch, eine "momentane Bestandsaufnahme mit deskriptivem Charakter" zu geben, in keiner Weise gerecht, dafür antwortet sie in ihrem letzten Absatz auf die selbstgestellte Frage "[W]as ist denn wirklich ‚webgemäß‘ und lesergerecht?": "Qualitativ gute, schnell zu erfassende Texte auf übersichtlichen Seiten mit kurzen Ladezeiten."

4. "Wir werden sehen" - Definitionsbedarf

Radio – Internet: zwei "neue" Medien und die Literatur. Ein kurzer Blick auf die Theoriedebatten hat gezeigt, daß um zwei Medien, deren Auftauchen 70 Jahre auseinander liegt, ganz ähnliche Erwartungen, Zweifel und Enttäuschungen kreisen.
Weiter als Willy Haas sind wir jedoch schon allemal, der, einige Jahrzehnte vor dem großen Hörspielboom, konstatierte:
"Doch behauptet man, aus dem Radio werde eine sogenannte ‚neue Kunst‘ entstehen. Möglich. Wir werden sehen."

Im Internet gibt es jetzt schon was zu sehen. Und es wird auch schon fleißig (sehr fleißig) darüber geschrieben.
Als den größten Mangel in der "Netzliteratur"-Theoriedebatte empfanden wir bei unserer Beschäftigung im Seminar allerdings, daß keine zureichenden Definitionen gegeben werden.
Was ist "Netzliteratur"?
Was ist im Unterschied dazu "Hyperfiction"?
Noch diffiziler wird es bei dem Versuch, die verschiedenen untersuchten "Texte" begrifflich unter einen Hut zu bringen. Klar ist nur, daß alle irgendwie zu unserem Thema "Netzliteratur" gehören, aber damit ist es auch schon vorbei. Jeder untersuchte Text ist völlig anders als der andere.

Fazit: Es gibt noch viel zu tun.

Weiteres Fazit: Es macht Spaß!