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Utopische Sexualität jenseits der Geschlechtsidentität?
"Die Aaleskorte der Ölig" von Dirk Günther und Frank Klötgen

(Susanne Donhauser, Birgit Klötzer, Christian Langenbrink, Andrea Lobensommer)

 

In der Geschichte der " Aaleskorte der Ölig" von Dirk Günther und Frank Klötgen läßt sich der User auf ein " Kombinationsabenteuer" ein, dabei dürfte er anhand der gegebenen "Regieanweisungen" keinerlei Probleme haben, selbst als sogenannter Drehbuchautor in Aktion zu treten. Als Gebrauchsanleitung vorab können Auszüge der Rezension von Roberto Simanowski herangezogen werden.

1. "Heute trifft’s den kleinen Sven."

2. Sex und gender

3. Der biologische Lebensrhythmus der Aale

4. Der Aal als Zeichen des Phallus

5. Die Ölig – Wortspiel pur?

6. Unschuldige Kindheit: Öligs Wunschtraum

7. Bloß eine Kinderei

8. Der Vorspann - mehr als nur ein Drehbuch?

9. Banalität und Transbanalität und der eigentliche Perspektivenwechsel: "The step beyond"


"Heute trifft’s den kleinen Sven."

"Es dauert immer eine Weile, bis sich eins der Kinder bereit erklärt, mit der Ölig zu gehen. Heute trifft’s den kleinen Sven." (Sz. 18, Perspektive Kind)

Ein anscheinend völlig harmloser Satz, aber ist das wirklich so? Was trifft Sven denn eigentlich? "trifft’s" ist schicksalhaft konnotiert und  besitzt gleichzeitig eine mit Furcht aufgeladene Semantik, welche in der Szene die Dimension eines Subtexts aufmacht und somit einen Ebenenwechsel einleitet (siehe Graphik).


Der Pfeil der paradigmatische Ebene ruft die verschiedenen Bedeutungen auf und öffnet sexuelle Bedeutungsparameter. Sven kann die drohende Gefahr nur ahnen, während der Leser um sie weiß und zum passiven Zuschauen verdammt ist. In Szene 19 (Ölig) sieht man die Ölig heftig am Kind zerren, da es sich weigert, mitzukommen. Dazwischen ist - laut Text - nur die Tüte mit dem Aal, der hier die Funktion eines Katalysators übernimmt, verbindet er doch Kind und Ölig durch seine Zwitterhaftigkeit.

Im Akt des Zerrens kommt eine Gewalt zum Ausdruck, die auf eine sexuelle paradigmatische Ebene deutet. Sexualität ist in diesem Werk immer mit Gewalt und Schmerzen verbunden, nur die Kinder können sie "unschuldig genießen" (Sz.16, Ölig). Das Adjektiv "unschuldig" stimmt allerdings nur, solange sich die Kinder untereinander befinden. Dringt ein Erwachsener, z.B.die Ölig, deren Sexualität im Gegensatz zu jener der Kinder voll ausgebildet ist, in diese Gemeinschaft ein, so schlägt die Besetzung abrupt ins Negative um.

Info: Sex und gender

Das biologische Geschlecht (sex) wird beim Menschen mit der Geburt sichtbar, während dagegen das soziale Geschlecht (gender) durch das Sozialisationsfeld nach Konventionen definiert wird. Der Versuch, sich dieser Zuweisung zu entziehen, muß notwendigerweise zu einem Bruch mit den herkömmlichen Rollenerwartungen führen. Diese Situation kann nur die Folge haben, daß das Subjekt ein zwitterhaftes gender auslebt.

Info: Der biologische Lebensrhythmus der Aale

weist den Tieren in den ersten Lebensjahren kein Geschlecht zu. Während sie sich in der Sargasso-See aufhalten, sind sie geschlechtsneutral bzw. Zwitter. Dann wird die Sargasso-See verlassen, erst bei der Rückkehr findet der Aal dort sein Geschlecht. Die Umweltbedingungen bestimmen dabei das Verhältnis zwischen männlichen und weiblichen Fischen. Erst nach dieser Umwandlung kehren die Aale in ihre Heimatgewässer zurück, um dort abzulaichen.

Der Aal als Zeichen des Phallus

Der Phallus steht für das Zeichen des Begehrens. Diese Situation ist an ein Geschlecht gekoppelt. Innerhalb der patriarchalen kulturellen Ordnung ist der Mann im Besitz des Phallus und die Frau repräsentiert den Phallus, da der Mann die Frau begehrt, um die Macht über sie zu besitzen bzw. zu erhalten.
Im Werk erscheint der Aal als ambivalentes Objekt der Begierde. Viele Textstellen sind durch die verwendeten Ausdrüke semantisch sexuell aufgeladen: "der weiß, daß Fett Gift für mich ist und der spürt, daß ich`s brauche"(Sz. 4, Ölig). Eine sexuelle Aufladung, die gleichzeitig die psychoanalytische Kastrationsthematik aufruft, wird durch die Szenen transportiert, in denen erwähnt wird, daß Hohmann im Moment der Enthauptung des Aals immer sein Glied auf den Tisch legt. Er ahmt dadurch die Kastration immer wieder symbolisch nach. Da der Aal von Hohmann mit dem weiblichen Geschlecht besetzt wird, spiegelt diese Situation die Problematik des Begehrens der Frau und die Angst vor der Selben wieder. Denn Hohmann versucht den Aal zu verkaufen, sich also des Zeichens zu entledigen, indem seine Ängste fokussiert sind.
Die Ölig dagegen spürt ein "unangenehmes Ziehen im Pimmel" (Sz. 16, Aal), als der Aal geköpft wird. Auf diese Weise erhält der Aal die Besetzung eines männlichen Zeichens, denn es wird eine Brücke zum weiblichen Penisneid geschlagen. Bei der Ölig wird der Fisch zum Signifikant des Begehrens nach einer männlichen Subjektposition. Diese Interpretation enthält einen Bruch, da sich gleichzeitig die Ölig dem Zwang, den Aal besitzen zu wollen, nicht entziehen kann. Das Tier fungiert im Werk als Zwitterzeichen, da es beide Positionen des Zeichens des Begehrens einnimmt.

Die Ölig – Wortspiel pur?

Der Verlust der sexuellen Utopie der Ölig begründet sich bereits durch ihren Namen. "Ölig" hat ja etwas mit Öl, einer glischigen Flüssigkeit zu tun, in die zum Beispiel Aale eingelegt werden können. Die Ölig umschlingt den Aal regelrecht, und jetzt wird die sexuelle Konnotation langsam eineindeutig. Aale werden zum Widerpart der Ölig und dadurch in ihrer Zwitterhaftigkeit bestärkt. In der Metapher des Öls wird buchstäblich der Aal in die Ölig eingelegt. Die Folge: ein Geschlechtsakt?
Warum fürchtet sich die Ölig vor dem Aal? Die Zwitterhaftigkeit des Aals ist für die Ölig insofern erschreckend, da der Aal in die Sargasso-See, hier also nach Saragossa kommt, um dort das Geschlecht auszubilden, um genau jenen Zwitterstatus zu verlassen, den die Ölig anstrebt. Folglich funktioniert die sexuelle Erfüllung mit dem Aal nicht, dafür eignet er sich aber desto besser als Identifikationsobjekt, hat doch auch die Ölig ihre sexuelle Identität fast erreicht und befindet sich so im gleichen Zustand wie die Aale. Ihr Ziel ist es aber nicht, in diesem Zustand zu verharren, der das ganze Werk über anhält, sondern wieder einen neutralen Zustand der Kinder zu erreichen.
Die Ölig hat auf der einen Seite Angst vor ihrer sexuellen Identität, sehnt sich aber gleichzeitig auf krankhafte Weise nach der sexuellen Erfüllung. Aus dieser Ambivalenz entsteht ein Problem, das die Ölig zu lösen versucht.

 

Unschuldige Kindheit: Öligs Wunschtraum 

Beim Betrachten des Bildes zum Text fällt auf, daß das kleine Mädchen weiß geschminkt ist, ja, fast schon eine weiße Maske trägt. Durch eine Maske wird die Persönlichkeit einer Figur verdeckt oder sogar umgedreht, und damit öffnet die Maske das Werk, führt sie doch eine unbekannte Größe ein, eine Größe, die das Geschlecht des Kindes in Frage stellt. Zur Erinnerung: Sven muß die Ölig begleiten, nicht ein kleines Mädchen, aber wir haben ja bereits festgestellt, daß Kinder noch einen geschlechtsneutralen Status besitzen. Folglich ergibt sich die Lesart, daß Junge und Mädchen austauschbar sind und die gleiche Rolle übernehmen können.
Außer den Kinder wechselt auch die Ölig immer wieder ihre Geschlechtszuweisung und könnte daher ebenso die männliche Figur im Bild darstellen, während die nackte Frau einen reinen Objektcharakter besitzt und deshalb auch nur ausschnittweise abgebildet ist. Sie stellt sowohl das Geschlecht dar, auf das immer wieder rekurriert wird, als auch die komplementäre Hälfte zum Mann. In der Verbindung bilden männliches und weibliches Geschlecht ein Ganzes, das seinen vollkommenen Ausdruck im Zwitter, und ganz besonders in der unbewußten Zwitterhaftigkeit der Kinder findet.

Die Hand des Mannes steckt scheinbar unter dem Rock des Mädchens und dekonstruiert den im Text ausgesprochenen Wunsch nach Unschuld, da vorgeführt wird, was geschieht, wenn "der" Ölig als Erwachsener "die Vergangenheit zum Tischnachbarn" (Sz. 16, Ölig) hat. In der Logik dieser Betrachtungsweise vergewaltigt "er" das unschuldige Mädchen, in der Hoffnung, damit den eigenen kindlichen Zustand wiederherzustellen. Natürlich kann das nicht funktionieren, da die Entwicklung des Geschlechts vom Alter abhängt und nicht vom Umgang mit dem restlichen Personal. So erklärt sich auch das schlechte Gewissen der Ölig nach dem Genuß des Aals, der hier symbolisch für die Vergewaltigung des Kindes steht.
Insgesamt gesehen übernehmen die Kinder die Funktion der Vergangenheit, die für Erwachsene unerreichbar ist. Die Ölig kann zwar an den Ort ihrer Kindheit zurückkehren, wird sogar genau wie die geschlechtsreif gewordenen Aale, durch ihre Triebe dazu gezwungen, doch ihre Befindlichkeit hat sich seit ihrer Kindheit geändert. Sie ist jetzt – genau wie die übrigen Erwachsenen - in Saragossa, ein Wortspiel mit Sargasso-See, um ihre sexuelle Erfüllung zu finden, weshalb die Kinder von den Erwachsenen allgemein oft als "Eindringlinge" (Sz. 16, Kind) betrachtet werden. Die Ölig sehnt sich aber nicht nur nach sexueller Erfüllung sondern auch nach Wiedererlangung der Unschuld. Diese beiden Verlangen überlagern sich und ständig gewinnt ein anderes die Oberhand. Schließlich kommt es zu einer Synthese der beiden, da die Ölig glaubt, durch engen Kontakt mit einem Kind sowohl ihre sexuelle Erfüllung zu finden als auch ihre Unschuld wiederzuerlangen.

Bloß eine Kinderei

Eine der Perspektiven der "Aaleskorte der Ölig" ist jene der Kinder und wenn, wie unter 1. und 6. erklärt wurde, die Befindlichkeit der Kinder von der Ölig angestrebt wird, so muß man sich erst einmal fragen, worin jene Befindlichkeit eigentlich besteht. Sicher, man könnte sich jetzt mit dem lapidaren Adjektiv "unschuldig" (Sz. 16, Ölig) begnügen, aber das bleibt doch sehr an der Oberfläche. Sicherlich besteht ein Zusammenhang zwischen Handlungsfreiheit und Unschuld. Kinder müssen, so verlangt es die Konvention, den Erwachsenen gehorchen, können selbst aber keine Befehle erteilen. Sie "beugen sich" (Drehbuch Kinder 17), wie es so schön heißt, können sich also nicht wehren. Dieses "beugen sich" ermöglicht einen Rückschluß auf "1. Heute trifft’s den kleinen Sven" (Sz. 18, Kinder). Bereits dort muß sich das Kind Sven dem Willen der Ölig fügen und hat im Prinzip keine Möglichkeit sich zu wehren, denn obwohl die Kinder die Ölig "enttarnen" (Drehbuch Kinder 15) haben sie dadurch nur einen Zugewinn an Wissen
Das "(E)nttarnen" hat indes die Konsequenz, daß das Adjektiv unschuldig nicht mehr ganz funktioniert, denn zur Unschuld gehört die Fähigkeit, Freude, Glück und Zufriedenheit zu empfinden, doch die Ölig "entführt die Genußfähigkeit der Kinder" (Drehbuch Ölig 18). Was wird den Kindern da genau entzogen? Wie unter "Unschuldige Kindheit: Öligs Wunschtraum" erklärt, versucht die Ölig durch engen, stark sexuell konnotierten Kontakt mit den Kindern eine neutrale Geschlechtszuschreibung wiederzuerlangen. Dieser Versuch endet für die Ölig mit einem schlechten Gewissen, das sich in einem "Fluch" (Sz. 12, Kinder) des "Siechtum(s) und (der) Verzweiflung" (Sz. 12, Kinder) äußert, und für die Kinder im Verlust der "Genußfähigkeit" (Drehbuch Ölig 18). Beide könnnen nichts mehr genießen, und besonders die Ölig findet sich in einem Teufelskreis gefangen (vgl. Öligs Dilemma), aus dem es kein Entrinnen gibt.
Doch wie sieht es jetzt aus Sicht der Kinder mit den Aalen aus? Betrachtet man Szene 8 (Kinder), so fällt auf, daß der Fisch auf dem Bild alles andere, nur kein Aal ist. Dafür erheben sich schwarze Büschel oder "Haare" (Sz. 8, Kinder) vom Meeresgrund, die sich durchaus "pflück(en)" (Sz. 8, Kinder) ließen. Der Fisch stellt nur einen Beobachter dar, doch seine spitze Form wirkt merkwürdig bedrohlich und hinterläßt den Eindruck, daß es für Aale nicht schön ist, "gepflückt" (Sz. 8, Kinder) zu werden. Allerdings werden sie nicht nach ihrer Meinung gefragt und sie können sich auch nicht wehren, genausowenig wehren, wie dies den Kindern möglich ist. Hiermit endet aus der Perspektive der Kinder aber vorläufig die Gleichsetzung, denn die Aale werden von ihnen als "Sünder" (Sz. 8, Kinder) und "Haare des Bösen" (Sz. 8, Kinder) interpretiert. Das schafft eine Distanz zwischen den Kindern und den Aalen, verweigern die Kinder doch den Aalen, die ihre symbolhafte Entsprechung darstellen, genau jenes Adjektiv, das für die Kinder so charakteristisch ist: "unschuldig" (Sz.16, Ölig). Sie stilisieren die Aale lieber zu einer bösen, das Schicksal beeinflußenden Gestalt, die auf das Leben der Figuren große Macht ausübt.
Letzteres ist nun durchaus nicht neu, denn auch alle Erwachsenen werden von den Aalen merkwürdig angezogen. Doch was ist mit der negativen Wertung? Da hilft wieder ein Blick in den Text, denn die Kinder schreiben, daß sie oft von den Erwachsenen als "Eindringlinge" (Sz. 16, Kinder) betrachtet werden. "Eindringlinge" befinden sich, was die Besetzung betrifft, auf einer ähnlichen semantischen Ebenen wie die Aale und so verbinden sich Kinder und Aale wieder.
Eine weitere Interdependenz findet sich in Szene 10, denn dort tötet Hohmanns Beil die "Seele" (Sz. 10, Kinder) der Aale, genau wie die Ölig den Kindern durch ihre Vereinigung mit ihnen, diesen einen Teil der Seele nimmt, also die davor erwähnte unschluldige "Genußfähigkeit" (Drehbuch Ölig 18). Die Seele stirbt und jede Gegenwehr – man denke hier an das "panisch(e) [...] um sich (Schlagen)" (Sz. 11, Kinder) und an das gewaltsame Mitzerren des sich sträubenden Kindes (Sz. 19, Erzähler) – bleibt zwecklos. Beide, Kind wie Aal, sind verurteilt zum Verlust ihres bisherigen Lebens. Dieses Ereignis konstituiert sich durch das Verlassen des semantischen Feldes der Unschuld und das Betreten eines neuen, jetzt aber noch nicht näher definierten, Raumes. Die einzige vorhandene Definition besteht in der Abwesenheit der Konnotation "Unschuld", was zwar ein neues Lebensfeld aufmacht, es aber zugleich schwammig läßt.

Der Vorspann - mehr als nur ein Drehbuch?

Beim Start der "Aaleskorte"-Seite sowie beim langsamen Durchlauf wird der User gezwungen, einen Blick ins Drehbuch des implizierten Erzählers zu werfen. In einer Art Diashow werden fünf Bilder aufgeblendet und jede Szene mit einem kurzen Kommentar unterlegt. Da der User in diesem Moment mit den teils kryptischen Unterlegungen noch nichts anfangen kann, versucht er so schnell wie möglich, in den eigentlichen Haupttext zu kommen. Deshalb geht die Bedeutung des Drehbuchs verloren.
Was entgeht ihm damit? Ein Schlüssel zum Verständnis der gesamten "Aaleskorte" durch die teils deskriptiven Kommentare, die interpretatorischen Charakter aufweisen. Diese Kommentare sind direkte Interpretationen des implizierten Erzählers. Um die Zusammenhänge zwischen den verschiedenen Perspektiven zu zeigen, haben wir eine Tabelle mit dem Drehbuch erstellt.
(Tabellenlink)
Dabei darf man nicht vergessen, daß die Bilder eine wichtige bedeutungstragende Funktion besitzen, da sie oft als einziges Element die Verbindung zwischen den fünf Perspektiven ermöglichen. Das Drehbuch gibt durch seine Zusammenführung der Perspektiven einen Rahmen vor, in dem wie in einem Spiel zwischen den einzelnen Personen hin- und hergesprungen werden kann.

Banalität und Transbanalität und der eigentliche Perspektivenwechsel: "The step beyond"

Reduziert man die Handlungsstruktur der Geschichte auf das Wesentliche, ergibt sich eine erstaunlich einfache, eindimensionale Struktur. Diese läßt sich in einem Satz zusammenfassen:
Eine Frau geht zum Fischhändler, kauft dort einen frischgeschlachteten Aal und geht in Begleitung eines Kindes nach Hause.
Es geht somit im Kern um eine Alltagssituation. Meine Behauptung lautet nun: Dirk Günther und Frank Klötgen haben sich eine banale Situation vorgenommen und diese unter dem Aspekt einer größtmöglichen Provokation "aufgemöbelt", nach dem Baukastensystem mit Tabuthemen gespickt, um den Leser zu reizen. Diese Tabuthemen sind Kindesmißbrauch, Vergewaltigung, Kastration, sexuelle Perversion. Von dieser Tatsache bekommt der Leser, der nur scheinbar die Rolle eines Drehbuchautors oder Regisseurs einnimmt, beim einmaligen "Durchspielen" nichts mit. Er hat nur deswegen die scheinbare Regisseursrolle, weil er vordergründig zwar 6.9 Milliarden Möglichkeiten des Perspektivenwechsels, aber keinen Einfluß auf die Handlung hat. Was nützen ihm die Milliarden Möglichkeiten, wenn sie sinnlos sind, da nach spätestens fünf linear durchgespielten Perspektiven, keine Neuerung mehr auftritt, zumal die Anzahl der Szenen auf 20 festgelegt ist und - wie bereits gesagt - somit der Hinweis auf die freie Drehbuchgestaltung zu hoch gegriffen scheint. Bild und Text der einzelnen Szenen bilden eine untrennbare Einheit, die nicht veränderbar ist. Beim Einstieg in die Handlungsstränge muß sogar immer mit der Person des kindlichen Erzählers begonnen werden, erst bei weiteren Durchgängen ist die Perspektive der Protagonisten frei wählbar.
Die eigentlichen Entscheidungen werden von den zwei implizierten Regisseuren bereits im Vorfeld getroffen, dem Leser bleibt nur noch eine limitierte Auswahl. Befindet man sich in einer gewählten Sequenz, hat der User keine Möglichkeit auszusteigen oder "vor- und zurückzuspringen". Außerdem fehlen Links, die aus der Handlung herausführen.
Die ganze Sache versinkt im Sumpf der Wiederholungen, der Langeweile. Der denkende Betrachter wird der Sache schnell müde und wird erkennen, daß ihm die 6,9 Milliarden Möglichkeiten nichts bringen, da die Story immer dieselbe ist. Hier muß der Leser eben einen weiteren Perspektivenwechsel oder Fokusshift vollziehen (6,9 Milliarden + 1) und die Absicht der Autoren offenlegen: Provokation des Lesers, Ablenkung von dieser Provokation durch Konfrontation mit Tabuthemen und Verschleierung der technischen Unzulänglichkeit mit den Perspektivenwechseln. Schon im "Vorspann", der auf den scheinbaren Filmcharakter einstimmen soll, beginnt die Provokation, von der der Leser im ersten Moment vielleicht nichts merkt: fiktive Kritiken fiktiver Zeitschriften, "TV Tomorrow" statt "TV Today" und weitere andere. Auch die hochtrabende Aussage, "Drehbuch ist zuschauergeneriert" kann letztendlich als Lüge überführt werden. Man muß den Autoren zugestehen, daß sie mit ihrer Methode Erfolg haben.
Der Leser kann sich auf mehreren Stufen mit dem Text beschäftigen:

Stufe 1: Einfaches Durchspielen der Geschichte, spielerisches Experimentieren mit den Perspektiven.
Stufe 2: Erkennen des Wiederholungsmoments, Interpretation der angeschnittenen Themen.
Stufe 3: Erkennen der Provokation, des Baukastensystems, das Spiel des (mit dem) Leser(s).

Der Schritt von Stufe 2 zu Stufe 3 ist das entscheidende Moment. Wer die Provokation als Experiment durchschaut, wird sich aus dem Kreis der Interpreten und Diskussionsteilnehmer erheben, den Autoren für ihre gelungene Arbeit Respekt zollen und sich weiter auf die Suche nach Hyperfiction machen.