a) "Dossiers"
Vera Bachmann
verabachmann@gmx.de
Zeitgenössische Moderne -Definitionen
»Jüngste Deutschland, das, auch Die Moderne (nach Herm. Bahr) gen., Sammelname für e. Gruppe von Schriftstellern, die, bewegt von naturwissensch. u. sozialen Problemen der Zeit, in den 80er u. 90er Jahren des 19. Jahrhunderts (teils unter der starken Einwirkung ausländ. Zeitdichter, bes. Goncourts, Zola, Tolstoi, Ibsen, Strindberg, teils auf eignen, vorwiegend Großstanderfahrungen fußend) eine neue, zeitweise rein naturalistisch gerichtete Kunstauffassung vertraten, jedoch frühzeitig auch anderen (z.B. symbolistischen) Einflüssen zugänglich waren und sich so rasch um die innere Einheit brachten (eine äußere bestand nie). Die erste Phase trug mehr lyrischen Charakter (H. u.J. Hart, Holz, Conradi,Henckell, typisch: Mod. Dichtercharaktere. 1885) u. war wenig eigenartig, da starke Talente fehlten. Die zweite brachte den raschen u. erfolgreichen Aufstieg einer entschlossen realistisch dramat. u. epischen Kunst (Hauptmann, Halbe, Sudermann, Schlaf, Kretzer, Polenz u.a.). Ein wichtiges Moment für das neue dram. Leben war die Gründung der Berliner Freien Bühne (1899. Brahm, Schlenther, G. Fischer). Die wichtigsten Zeitschriften waren Die Gesellschaft (M.G. Konrad, W. Kirchbach, Hans Merian), die freie Bühne (Holz, Schlenther, Brahm) u. Pan (Bierbaum)«
[über die modernen Dichtercharaktere:] »Schrankenlose, unbedingte Ausbildung ihrer künstlerischen Individualität ist ja die Lebensparole dieser Rebellen und Neuerer.[...] Gleich stark und gleich wahr lebt in Allen [...] das grandiose Protestgefühl gegen Unnatur und Charakterlosigkeit; gegen Ungerechtigkeit und Feigheit[...], gegen Heuchelei und Obscurantismus; [...] Denn das ,Credo' soll [...] den Modus charakterisieren, in dem die neue Richtung sich ausgibt. Sie will mit der Wucht, mit der Kraft, mit der Eigenheit und Ursprünglichkeit ihrer Persönlichkeiten eintreten und wirken; sie will sich geben, wie sie leben will: wahr und groß, intim und confessionell. Sie protestirt damit gegen die verblaßten, farblosen, alltäglichen Schablonennaturen, die keinen Funken eigenen Geistes haben und damit kein reiches und wahrhaft verinnerlichtes Seelenleben führen. Sie will die Zeit der »großen Seelen und tiefen Gefühle« wieder begründen.«
»Die moderne Kunst, wo sie ihre lebensvollsten Triebe ansetzt, hat auf dem Boden des Naturalismus Wurzel geschlagen. Sie hat, einem tiefinnern Zuge dieser Zeit gehorchend, sich auf die Erkenntnis der natürlichen Daseinsmächte gerichtet und zeigt uns mit rücksichtslosem Wahrheitstriebe die Welt wie sie ist. Dem Naturalismus Freund, wollen wir eine gute Strecke Weges mit ihm schreiten, allein es soll uns nicht erstaunen wenn [...] die Straße plötzlich sich biegt und überraschende neue Blicke in Kunst und Leben sich auftun. Denn an keine Formel, auch an die jüngste nicht, ist die unendliche Entwicklung menschlicher Kultur gebunden, und in diser Zuversicht, im Glauben an das ewig Werdende, haben wir eine freie Bühne aufgeschlagen, für das moderne Leben«
»Daß aus dem Leide das Heil kommen wird und die Gnade aus der Verzweiflung, daß es tagen wird nach dieser entsetzlichen Finsternis und daß die Kunst einkehren wird bei den Menschen - an diese Auferstehung, glorreich und selig, das ist der Glaube der Moderne«
»Es war ein völliger Wendepunkt im deutschen politischen Leben [...]. Ebenso sah sich aber auch die werdende neudeutsche Kultur durch diesen Umschwung vor eine Fülle von Problemen gestellt. Das revolutionäre Geschlecht, das damals gegen die Epigonenliteratur Sturm lief, war gar nicht in erster Reihe von ästhetischen Bedürfnissen ausgegangen. [...] und so begehrte man keineswegs einen neuen Stil, sondern neue Stoffmassen, neues Blut, überhaupt eine völlige Auffrischung von Literatur und Leben. Die Schönheit wurde mit Bannstrahlen förmlich überschüttet, und Wahrheit lautete jetzt das Schlagwort, Wahrheit um jeden Preis, mochte darüber auch die ganze bisherige Kunst und Kultur zum Teufel gehen.«
»Der modernen Poesie nun
eignet noch längst nicht jene Abgeschlossenheit, die erforderlich
ist für das Begreifen ihrer Wesenheit. Sie steht nicht als
Objekt vor uns, sie lebt als Subjekt in uns.« (S. 250)
»Die Kunst früherer Tage gleicht einem Fest- und Feiertag,
hingegen das ganze Streben der modernen Dichtung darauf hinausgeht,
den Alltag zu idealisieren.« (S. 255)
»Jedenfalls liegt das Moderne nicht im Stoffe. Es liegt
in der neuen seelischen Auffassung, die der Dichter den gewöhnlichen
oder seltenen Erscheinungen des Tages gegenüber bekundet.
Es beruht in einer unendliche gesteigerten seelischen Anteilnahme
des Dichters an der Welt. [...] Allein der Realismus vermag im
Sinne der modernen Anschauung die Kluft zwischen Leben und Kunst
überbrücken. [...] Besonders ist es allein dem Realismus
möglich, den Charakteren der Dichtung jene Selbständigkeit
des Fühlens und handelns zu geben, die für die Moderne
so ungemein charakteristisch ist.« (S. 275)
»Wo man von »Moderner Literatur« spricht, vernimmt
man auch immer wieder das Wort »Übergangszeit«.[...]
Die Phrase von der »Übergangszeit« ist ebenso
verbraucht als nichtssagend. Wirklich bedeuten kann sie doch nur,
daß in unserer modernen Dichtung die Persönlichkeit
noch nicht erschienen ist, die das neue Weltverständnis,
ein unendlich verfeinertes und doch tonstarkes Gefühlsleben
und die daraus entstandenen neuen Kunstmittel in einem freien
und starken Werk verkörpert wie dies in den Nachbarkünsten
Musik, Malerei, Plastik mehrfach geschehen ist« (S. 277)
»Der Mangel an positivem Gehalt bildet aber die eigentliche
Krankheit der modernen Dichtung; religiös ausgedrückt:
ihr fehlt der Glaube. Und dieser Mangel tritt deshalb so stark
zutage, weil die moderene Dichtung künstlerisch nach völliger
Objektivität des Dargestellten strebt« (S. 278)
»Das Wort »modern« ist über seinen ursprünglichen Begriff hinausgewachsen, es hat sich auch von der Mode, mit der es verquickt wurde, wieder abgelöst. [...] es ist uns der Ausdruck geworden für die Empfindung von der Notwendigkeit des entwicklungsgeschichtlichen Fortschrittes. [...] Anders will er [der Moderne] alles machen, als es bisher war. [...] Er repräsentiert [...] die Bewegungstendenz gegenüber der Beharrungstendenz. Darum ist er ein Revolutionär auf dem Gebiete, auf das er sich wirft [...]. Aber mögen die Modernen in dem einen oder anderen Fall noch so irren [...], darum bleibt die »Moderne« doch das treibende Prinzip des Fortschritts.«
»Es gibt wieder mal etwas
Neues, wir haben wieder mal eine neue Kunst, etwa die einundzwanzigste
in diesem Jahrhundert, wenn man nur die Hauptströmungen rechnet.
Um unseren ausgearbeiteten Sinnen zu imponieren, waren besondere
Dinge nötig, es brauchte besondere Reize, um uns aus dem
gewissen schlummerhaften Interesse wachzurütteln, mit dem
wir seit zwanzig Jahren jede neue Richtung pflichtschuldig zu
begrüßen gewohnt sind.
Die neue hat einen Kniff für sich, sie »kommt«
nicht wie die andern alle, sie nötigt nicht zum mehr oder
weniger versteckten Futurum, sie ist da, im Indikativ Präsens.
Sie ist so schnell gekommen, daß man nicht mal ein Schlagwort
für sie finden konnte, sie hat nicht mal einen Namen, und
merkwürdigerweise ist sie doch überall bekannt. [...]
Sie greift frech in die private Allheimlichkeit hinein, reißt
die scheußliche aber gewohnte Rokokotapete von den Wänden,
nimmt dem Familienvater den Renaissancestuhl unter dem Leibe fort,
auf dem er seit 1870-71 friedlich gesessen, zieht ihm den persisch-slowakisch-slavonischen
Teppich unter den Pantoffeln fort und gibt dafür neue Dinge,
Dinge, die durchaus nicht zu den alten gemütlichen Erbstücken
passen, die auf einmal alles auf den Kopf stellen, Ausgaben verlangen
an Geld, Verstand, Zeit und wer weiß was, aber die auf einmal
da sind wie selbstverständlich, da sein müssen. [...]
Diese moderne dekorative Bewegung [...] ist eine Forderung der
Zeit, wägbarer, rein materieller Verhältnisse, und die
Notwendigkeit, aus der sie folgt, ist mit jener deutlicheren verwandt,
die den Fortschritt der unserer Zeit eigentümlichen äußeren
Wertfaktoren diktierte. Wie sich in all den Wissenschaften, deren
Anwendungen für unser Leben praktischen Wert besitzt, von
einem gegebenen Zustand aus Erweiterungen nach ganz bestimmten
Richtungen hin folgern lassen, wie man bei der Erfindung der Lokomotive,
der Photographie, des elektrischen Lichtes, bei der Entdeckung
der Bacillen und der vielen wichtigen Theorien, die unsere Physik
und Chemie in unserer Zeit bereichert haben, auf tausenderlei
Umgestaltungen unseres öffentlichen und privaten Lebens schließen
konnte, deren Vollzug nur eine Frage der Zeit war und ist, und
die nicht nur die materielle Basis unserer Existenz, sondern auch
alle wichtigen idealen Faktoren des Lebens modifizieren, so mußte
sich auch schließlich einmal in der Kunst diese neue Zeit
unmittelbar ausdrücken. Man sprach schon lange von einer
modernen Kunst, seit einem Jahrhundert etwa, [...] moderne Maler
brachten moderne Gegenstände auf die Leinwand, [...] andere
faßten den Zeitbegriff tiefer, man fing an zu begreifen,
daß es nicht im Stoff allein liegen konnte, sondern im Mittel;
die Anschauungsform wurde modern, der Impressionismus zeigte,
wodurch sich das Auge des heutigen auszeichnete, [...] aber das
Prinzip blieb; man versuchte innerhalb des Rahmens alles was nur
denkbar war, aber man rüttelte nicht an dem Rahmen.
Und jetzt kehrt sich die Sache um. Die Zeit [...] ist wach geworden.
[...] Aber sie hält sich nicht mit Dissertationen auf, sie
diskutiert nicht, sie ist ein brutales Monstrum, gewohnt, über
Leichen zu schreiten.«
»Der Modernismus ist - und darin und nicht nur in der Weise des persönlichen Auftretens ein Protestantismus - der Versuch, die Religion mit der bürgerlichen Vernunft zu durchdringen, er ist wider die Vernunft gleichwie gegen das Religiöse gerichtet und an den Leiden wie Entzückungen seiner Märtyrer haftet etwas von jenem geistigen Geruch, der aus dem hingerissenen Theaterspiel des bürgerlichen Amateurs aufsteigt, ein Gemisch des Atems der Leidenschaft mit dem schwächlicher Zähne.«
»meine Herren, die Biographie
des Ich ist nicht geschrieben, aber wo Sie sich in die Geschichte
des Verhältnisses von Welt und ich vertiefen, sehen Sie mit
großer Deutlichkeit diese Entwicklung vor sich: Die Erstarkung
des Gefühls der Selbständigkeit des individuellen Subjekts.
Das Ich sich zunächst durchaus in die äußere Welt
hineinstellend, in seinem Bewußtsein anfangs kaum die Stellung
der eigenen Person und der es umgebenden Lebewesen in seinem Weltbild
unterscheidend, sammelt und konzentriert allmählich das subjektive
Lebensgefühl zu der Bewußtheit von einer individuellen
Existenz. [...]
Die Veränderung des Weltbildes, ausgehend von der durchaus
pluralistischen Weltauffassung des Animismus: die Welt zerklüftet
in unzählige objektive Einzelexistenzen, unter denen das
Ich ein Einzelwesen wie jene, keine irgendwie ausgezeichnete Stellung
einnimmt, über des Polytheismus allmählich sich verschärfende
Trennung zwischen Göttern und Geistern: dem vielspältigen,
unberechenbaren, launischen Wirken der Geister das irgendwie gesetzliche
Walten der Götter gegenübergestellt, bis zu des Monotheismus
Einheitsidee: die Welt von einem Willen, einem Gesetz geregelt,
von einem Prinzip des Lebens beseelt, geht eine Entwicklung des
Lebensgefühls des Menschen parallel, indem das Ich Zug für
Zug jenen Gedanken des Subjektivismus in sich bildet, daß
die ganze äußere Welt als ein inneres Erlebnis ihm
gegeben ist.«
Katrin Bergmann
katrin.bergmann@excite.com
Aus: Toller, Ernst: Eine Jugend
in Deutschland, 1998, Rowohlt Verlag
- "Ich beginne, an der Notwendigkeit einer Ordnung zu zweifeln,
in der die einen sinnlos Geld verspielen, und die anderen Not
leiden." "Der Tag ist mir verleidet, die Welt ist mir
verleidet, die Werte, die ich gestern für ewig und unverrückbar
hielt, sind fragwürdig geworden, ich selbst bin mir fragwürdig."
(S. 35)
- "- Sie schreiben Gedichte? sagt der Major. - Zu Befehl,
Herr Major. - Wohl moderne? Als Dichter Kampf der Romantik, als
Soldat wünschen Sie sich einen kleinen romantischen Krieg.
Prost. - Prost, Herr Major." (S. 47)
- "...die Sucht, den Gegner herabzusetzen, zu beschimpfen
und zu besudeln, ist so widerwärtig, daß ich in einem
Aufsatz, den ich dem 'Kunstwart' schicke, mich gegen diese Haltung,
die uns selbst herabsetzt, wehre, der Redakteur schickt das Manuskript
mit vielen gewundenen Phrasen zurück, man müsse auf
die Volksstimmung Rücksicht nehmen. Dabei ist die Volksstimmung
in der Heimat gezüchtet, die Frontsoldaten 'spucken darauf'."
(S. 50)
- "Alle sind sie aus ihren Arbeitsstuben aufgescheucht worden,
alle zweifeln sie an den Werten von gestern und heute. Nur die
Jungen wollen Klarheit. Reif zur Vernichtung scheint ihnen diese
Welt, sie suchen den Weg aus den schrecklichen Wirren der Zeit,
die Tat des Herzens, das Chaos zu bannen, sie glauben an den unbedingten,
unbestechlichen Geist, der seiner Verpflichtung lebt und der Wahrheit.
Aber diese Männer, die sie als des Geistes Träger verehren,
sind keine biblischen Prohpeten, die eine verirrte Welt mit mächtigem
Wort richten und verdammen, die bereit wären, den Zorn der
Könige und Tyrannen furchtlos zu ertragen, sind keine Rebellen
und Aufrührer, sie flüchten sich in das Gespinst lebensferner
Staatsromantik." (S. 57)
- "Junge Menschen, die wissen, daß die 'große
Zeit' eine elend kleine Zeit ist, klagen den Krieg an und seine
sinnlosen Opfer, haben nur einen Wunsch, im Wust der Lüge
die Wahrheit zu erkennen." (S. 60)
- "Haben wir nicht (...) geschworen mit heiligem Ernst, daß
der Krieg nur einen Sinn haben kann: den Aufbruch der Jugend?
Dieses Europa muß umgepflügt werden von Grund auf,
gelobten wir,..." (S. 60)
- "...Wir wissen, daß unsere Kultur von keiner fremden
Macht erdrückt werden kann, wir verwerfen aber auch den Versuch,
andere Völker mit unserer Kultur zu vergewaltigen. Unser
Ziel ist nicht die Machterweiterung, sondern Organisation des
Geistes." (S. 60)
Aus: v. Tschörtner, H.D.
(Hrsg.): Gespräche und Interviews mit Gerhart Hauptmann (1894-1946),
1994
- Der Tag, Berlin, 16. Oktober 1917. Alfred Holzbock: Bei Gerhardt
Hauptmann:
"Es wäre eine Frivolität, wenn all' das Große
und all' das Traurige, das jetzt unser Inneres erfüllt, stofflich
für die Bühne ausgenützt werden sollte, und es
scheint, daß selbst unsere Possenautoren, vielleicht geführt
von dem instinktiven richtigen Empfinden des Publikums, dieses
erkennen, denn nicht nur die Kriegsposse ist entschwunden, man
vermeidet es, selbst in einer Coupletstrophe heute das Tragischste
und Gewaltigste aller Weltereignisse zu berühren. Ein Dichter
hat es versucht, diese zu behandeln, von Unruh in seinem Drama
"Das Geschlecht", aber hier ist alles Stoffliche vermieden,
beleuchtetn das Symbol in antiker Tragik den Krieg. Wenn einst
der Friede Einkehr gehalten hat, dann werden sich bei uns auch
neue Kräfte regen, auch auf dem Gebiete der Bühnendichtung,
aber mit neuen, vertieften Idealen und Empfindungen, die unsere
Zeit uns gelehrt und offenbart hat. Aber gerade diese unserer
Zeit entquellenden Vertiefungen der Ideale und Empfindungen lassen
es ausgeschlossen erscheinen, daß das Stoffliche dieses
Krieges von unseren Dramatikern brutal ausgenützt wird. Ich
könnte es nicht, und darum habe ich mich in den Kriegsjahren
unter anderem der Vollendung einer balladenartigen Bühnendichtung
hingegeben, dich ich bereits vor zehn Jahren entworfen habe."
(S. 68f.)
Aus: Hesse, Hermann: Gesammelte
Briefe, Bd. 1, 1895-1921, 1978, Suhrkamp Frankfurt
- An Conrad Haußmann, 25.10.14
"Am Krieg plagt mich zur Zeit am meisten die Brutalität,
mit der über alles Politische und Soldatische hinaus allgemeine
Geisteswerte verachtet und bespuckt werden. Schon die mit wohlfeiler
Bravour gegen Hodler gerittene Attacke war entbehrlich, aber der
allgemeine Boykott gegen Kunst und Dichtung 'feindlicher' Völker
ist eine arge Entgleisung und zeigt allzu deutlich, daß
wir Fortgeschrittenen mit unsern Kultur- und Menschheitsgedanken
noch eine schwächliche Minderzahl von Sonderlingen sind."
(S. 247f.)
- An Gustav Gamper, 15.11.14
"...und habe etwas von der klargefegten Luft geatmet, die
der Krieg geschaffen hat. Kein Zweifel, er tut den Seelen der
Völker gut, er säubert und vereinfacht, und man muß
das schätzen. Das Traurige ist nur, daß die Mehrzahl
der Menschen nicht seelisch rein und gut bleiben kann, ohne durch
solchen Gewaltstoß ihrer selbst wieder bewußt gemacht
zu werden! Ein geradliniges Geistesleben - ich weiß als
Beispiel eigentlich nur etwa den Buddhismus - müßte
bestehen können, ohne solcher Aufrüttelungen zu bedürfen."
(S. 251)
" Wie recht Sie haben mit dem, was Sie über Kunst und
Naturwahrheit denken! Keiner von uns kann mehr geben als er hat,
aber auch der Bescheidene, ja Arme ist eben genau insoweit wertvoll
und edler Wirkung fähig, als sein innerstes Fühlen mit
dem Lebenswillen der Natur einig ist. Alles davon Abweichende
führt höchstens zu interessanten Mißgewächsen."
(S. 251)
- An Volkmar Andreä, 26.12.14
"Die moralischen Werte des Krieges schätze ich im ganzen
sehr hoch ein. Aus dem blöden Kapitalistenfrieden herausgerissen
zu werden tat vielen gut, gerade auch Deutschland, und für
einen echten Künstler, scheint mir, wird ein Volk von Männern
wertvoller, das dem Tod gegenübergestanden hat und die Unmittelbarkeit
und Frische des Lagerlebens kennt. Darüber hinaus verspreche
ich mir wenig vom Krieg, und ein erneutes Hurrawesen wird ja wohl
nicht ausbleiben. Daß aber wirkliche Kultur vernichtet wird,
glaube ich nicht. Schöne einzelne Werke, ja, und wertvolle
Personen genug - aber der Gedanke der Kultur selbst, der immer
nur in einer geistigen Auswahl sein Leben hat, wird eher erstarken.
Wenn auch nur bei einem Teil der mitkämpfenden Jugend wirklich
das Lebensgefühl vertieft wird, der Sinn fürs Unzerstörbare
gestärkt wird, die Freude am Läppischen abnimmt, so
ist damit mehr gewonnen als mit einigen Städten und Domen
verlorengehen kann. Das gefällt mir eigentlich an diesem
phantastischen Krieg, daß er gar keinen 'Sinn' zu haben
scheint, daß es nicht um irgendeine Wurst geht, sondern
daß er die Erschütterung ist, von der ein Wechsel der
Atmosphäre begleitet wird. Da unsre Atmosphäre einigermaßen
faul war, kann der Wechsel immerhin Gutes bringen. Ob es teuer
und etwa allzu teuer erkauft sei, dürfen nicht wir entscheiden.
Die Natur verschwendet immer, ihr ist das einzelne Leben nichts
wert. Für uns, die wir als Künstler oder Denker immer
etwas abseits standen und mehr im Zeitlosen lebten, für uns
können eigentlich nur materielle Schäden entstehen,
und die sind immer zu tragen. Es gibt nur ein einziges Reich des
Friedens und des ewig Sinnvollen, das steht unerschüttert
im Herzen jedes Menschen, der Bach in der Tiefe erfaßt hat
oder Plato oder den Faust...." (S. 255f.)
"Kultur, in unserem Sinn, ist vielleicht Glück. Aber
sicher ist es nicht das, was bis zum ersten August in Europa offiziell
für Glück galt, denn das war ungefähr gleichbedeutend
mit Komfort. Die Menschen waren zu viel mit letzterem beschäftigt
und hatten für die eigentliche Kultur zu wenig Zeit und Willen
mehr, darum sind sie verrückt geworden und schlagen einander
tot. Richtig daran ist nur, daß Sterben und Totschlagen
nicht sinnloser ist als das, was vordem für Glück gegolten
hatte." (S. 257)
- An Hans Sturzenegger, 25.12.16
"Man hört jetzt einige Barbaren behaupten, wir hätten
vor dem Krieg in lauter Luxus und Gefühlsduselei gelebt und
erst jetzt das wahre Leben und die rechten Gefühle wieder
entdeckt. Das ist so dumm und verlogen wie möglich. Ich weiß
heute aus Erfahrung: ein Gedicht machen und ein Lied singen, ist
nicht nur hübscher, sondern auch unendlich viel gescheiter
und wertvoller, als eine Schlacht gewinnen oder als eine Million
fürs Rote Kreuz geben. Es ist nichts mit dieser 'organisierten'
Welt der Politiker und Generäle, und von unsern Künstlerträumen
ist der verrückteste immer noch mehr wert." (S. 341)
- Gruß aus Bern (an die Gefangenen), 2.8.1917
"Es war bei uns insofern eine Überschätzung der
Dichter im Schwang, als man sie bei allerlei Gelegenheiten um
ihre werte Meinung bat, ihre geschätzten Namen je und je
in Tagesblättern meinte lesen zu müssen. Wie sehr dieser
Höflichkeit auf der anderen Seite eine völlige Unkenntnis
und Verachtung der Dichtung bei der Mehrzahl unserer Gebildeten
entsprach, das ahnte jeder von uns ein wenig, doch gab es sich
keiner recht zu. Statt in Dachkammern zu wohnen, Brotrinde zu
essen und den Philistern auf den Kopf zu spucken, waren wir Dichter
angenehme, fast gesellschaftsfähige Herren geworden, denen
manches artige Wort zu Tagesfragen, mancher Witz, manche hübsche
kleine Ironie gelang." (S. 354)
- Gruß aus Bern (an die Gefangenen)
"Und wenn ich unsere Dichtung und Geistigkeit von heute ansehe,
so erschreckt ihr niedriger Stand mich keineswegs, denn ich weiß:
die Besten schweigen. Sie sitzen auf verlorenen Inseln, von der
Menge und vom Ton des Tages durch Entfernungen von Entwicklungsjahrhunderten
getrennt. Sie fühlen, daß es keinen Wert hat, mitzuschreiben,
mitzuschreien, oder auch nur sein Gut zu verteidigen. Sie folgen
den Ereignissen mit dem Anteil, den ihre traurige Größe
täglich fordert; aber die meisten von ihnen haben nicht mehr
die Illusion, daß ein plötzlich politisch gewordener
Dichter den öffentlichen Dingen wesentlich aufhelfen könne.
Es ist nichts mit der Politisierung der Dichter. Im Gegenteil,
wir sind begieriger als je nach fernsten Robinson-Inseln, wo unsere
Träume blühen und unsere Liebe zu den Menschen sich
ausleben kann, statt mißbraucht zu werden, statt auf anderen
Gebieten halbe Arbeit zu tun, statt das kaum und halb Erlebte
des Tages für den lieben Leser vorzuverdauen. Es ist nichts
mit dem lieben Leser, es ist nichts mit der Rolle der Dichter
als freundlich gewordener Plauderer oder als edel belehrender
Onkel, das waren lauter Erfindungen des Publikums. Ein Dichter
soll das Publikum nicht lieben, sondern die Menschheit (deren
bester Teil seine Schriften nicht liest und dennoch braucht).
Ein Dichter soll weder dem Vaterlande zulieb Journalist oder Parteimann
werden, noch sich unter die Kriegslieferanten begeben, so verlockend
das geschäftlich sein möge. Er soll diese Zeit miterleben,
nicht sie noch unerlebt auszumünzen versuchen, und er ist
sich und seinem Volk nicht schuldig, Dinge zu treiben, zu denen
nichts ihn zwingt." (S. 355)
- An Romain Rolland, 4.8.1917
"Das Leben ist schwer geworden und schmeckt bitter. Wo immer
möglich, wende ich mich vom Aktuellen ins Zeitlose, so ist
die Poesie mir noch teurer geworden. Der Versuch, an politische
Dinge Liebe zu wenden, ist mir mißglückt. Auch "Europa"
ist mir kein Ideal - solange Menschen einander töten, unter
Führung Europas, ist mir jede Einteilung der Menschen verdächtig.
Ich glaube nicht an Europa, nur an die Menschheit, nur an das
Reich der Seele auf Erden, an dem alle Völker teilhaben und
dessen edelste Verkörperung wir Asien verdanken." (S.
358)
- An Richard Dehmel, 6.8.1917
"Aber ich sehe im Schwulst der Jüngsten, außer
dem momentan Unerfreulichen, doch etwas Lebendiges. Es ist das
Stammeln von Neurotikern, zum Teil. (...) Mir ist das, weil Zukunft
drin liegt, lieber als jede glatte Kunst, die dem gangbaren Philister-Ausdruck
sich anpaßt. Auch scheint mir das Chaos in der Kunst zu
dem in Europa zu passen." (S. 359)
- An Otto Blümel, 8.1.1917
"Deine Meinung darüber, daß es in der Kunst wohl
nicht nötig sei, "Neues zu sagen", teile ich. Trotzdem
glaube ich an die ständige Wandlung des Ausdrucks und habe
grade in unsrer Zeit stark das Gefühl von einem Ruck in der
ganzen Geschichte. So wenig es mir imponiert, wenn irgendein junger
Mann von heut auf morgen Futurist wird und den Kandinsky nachahmt,
genauso sklavisch, wie er vorher die ältere Kunst imitiert
hat - so wenig mir das imponiert, so empfinde ich doch in der
Gesamtheit dieser Neuerungen, im ganzen Expressionismus der Malerei
und Dichtung, eine sehr bedeutsame Wandlung. Mir geht das vielfach
mit den Gedanken über den Krieg zusammen und mit meinen Phantasien
über Neubildungen im Menschenleben, Empfinden und Denken,
die mir sehr wichtig scheinen." (S. 363)
Clarissa Czöppan
clarissa.czoeppan@gmx.de
Arthur Schnitzler, Tagebuch
1913-1916. Wien: Verlag der Österreichischen Akademie der
Wissemschaften, 1983.
S.129: In wenig Tagen hat sich das Bild der Welt völlig verändert.
Man glaubt zu träumen! Alle sind rathlos.
Stefan Zweig, Tagebücher.
Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag, 1984.
S. 84: Es ist Genialität oder Irrsinn - nie war die Welt
so rasend. Und dabei die widerwärtige Weichlichkeit der Wiener
Stadt, die Frauen prominieren in hellen Kleidern, cokketieren
und lachen, nirgends Voraussicht, alles auf den Augenblick gestellt.
Unruhen nur als Nervosität - bis zum Rathaus die Leute heute
angestellt um Silber gegen Banknoten zu tauschen, jetzt schon
dieses grenzenlos Mißtrauen gegen uns selbst.
S. 101: Eine stumpfe Gehorsamkeit, mehr haben sie jetzt nicht:
in diesen Arbeitern und Bauern ist das Schöne, die Glorie
weg, das was sie beglückte, aber die Zucht ist ungebrochen.
S. 173: Die Stimmung bedrückt, aber gar nicht schwül.
Statt Erwartung -Lähmung. Wären wir nur weiter - man
hoffte am Ende zu sein und jetzt beginnt es.
S. 210: Seltsam sind diese Begegnungen. Und seltsam - beschämend
für meine Voraussicht - daß man noch immer heiter Licht
und Luft genießt, daß alles hier Vergnügen atmet,
daß überhaupt nach einem Jahr Wahnsinn diese Welt noch
in ihren Angeln ist.
S. 219: Mein Kopf ist ausgeronnen, die Arbeit widert mich an,
weil ich ihre Notwendigkeit nicht einsehe. Das Frühere hatte
wenigstens einen Schein von Sinn, das Jetzige ist öde und
nur zu privatem Zweck. Und es widert mich so an, daß ich
für mich selbst nichts machen kann.
S. 222: Nichts. Öde. Leere. Gleichgültigkeit. Ich schäme
mich ihrer nicht, sie ist ein Massenphänomen geworden wie
früher die Begeisterung.
S.268: Langes Gespräch über die jüngste Kunst.
Ihn frappiert die Gleichzeitigkeit des Auftretens (er vergleicht
sie mit einer Naturerscheinung). Ich erkläre sie ihm als
Culturerscheinung, als Geschwindigkeitserscheinung der modernen
Übermittlung. Wie ja alle Moden jetzt sich rapider verbreiten
S. 311: Die Zeit war tot, nun wird sie neuerdings grauenhaft lebedig.
Ich war müde des sinnlosen, nun findet sich allmählich
wieder ein Sinn der Zeit, oder besser der immer in dieser Krise
verborgene Sinn beginnt sich zu zeigen.
ebd.: Man muß die Kunst lernen, dumpf zu leben, sich selbst
und nicht der Zeit, die ja Lebensvernichtung ist, Hemmung und
nicht Befreiung.
S. 330: Man ist lahm, ausgehofft, ausgeängstigt. Man kann
nicht mehr
ebd.: Man ist ganz nervös von diesen ewigen Angelegenheiten
der Welt, die Neuigkeiten stürzen furchtbar vehement übereinander.
Es sind unsere intensivsten Stunden: das Schicksal Europas formt
sich um.
Arthur Schnitzler, Briefe 1913-1931.
Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag, 1984.
S.44: Nun findet man sich in diese phantastisch-grauenhaft gewordene
Welt so gut es eben geht; daß jedermann durch ganz persönlichen
Anteil oder durch eine noch so bescheidene Tätigkeit irgendwie
in diese wirbelnde Bewegung mit oder ohne Nutzen für das
Ganze hineingezogen wird, ist selbstverständlich;
Thomas Mann und Heinrich Mann,
Briefwechsel 1900-1949. Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag,
1995.
S. 170: Ich bin noch immer wie im Traum, - und doch muß
man sich jetzt wohl schämen, es nicht für möglich
gehalten und nicht gesehen zu haben, daß die Katastrophe
kommen mußte. Welche Heimsuchung! Wie wird Europa aussehen,
inner mich und aeußerlich, wenn sie vorüber ist? Ich
persönlich habe mich auf eine vollständige Veränderung
materieller Grundlagen meines Lebens vorzubereiten. Ich werde,
wenn der Krieg lange dauert, mit ziemlicher Bestimmung das sein,
was man >>ruiniert<< nennt. In Gottes Namen! Was will
das besagen gegen die Umwälzungen, namentlich die seelischen,
die solche Eereignisse im Großen zur Folgen haben müssen
! Muß man nicht dankbar sein für das vollkommen Unerwartete,
so große Dinge erleben zu dürfen? Mein Hauptgefühl
ist eine ungeheure Neugier - und, ich gestehe es, die tiefste
Sympatie für dieses verhaßte, schicksals- und rätselvolle
Deutschland, das, wenn es >>Civilisation<< bisher
nicht unbedingt für das höchste Gut hielt, sich jedenfalls
anschickt, den verworfenen Polizeistaat der Welt zu zerschlagen.
S. 176: Schmerz? Es geht. Man wird hart und stumpf.
Ich
habe dies Leben nicht gemacht. Ich verabscheue es. Man muß
zu Ende leben so gut es geht.
S. 178: Selbstgerechtigkeit? O nein - sondern weit eher das Gemeinschaftsgefühl
mit denen, die auch, gleich mir, es wissen, wie viel wir alle,
die Kunst und Geistesart unserer Generation, es verschuldet haben,
dass die Katastrophe kommen konnte.
Rainer Maria Rilke, Briefe.
Wiesbaden: Insel Verlag, 1950.
S. 470: Allmählich fang ich an, mein Zurückgebliebensein
hinter so viel Aufbruch verwirrt und kränkend zu empfinden:
die ersten Tage trieb mein Geist in der großen allgemeinen
Strömung, konnte auf seine Art mit; dann besann ich mich,
als unsäglich Einzelner, auf mich selbst, auf mein altes,
mein bisheriges Herz (das ich nicht aufgeben kann), und nun hab
ichs sehr schwer über diesen Bogen, einzeln, zum ungeheuren
Allgemeinen die gültige, womöglich irgendwie furchtbare
Stellung zu gewinnen. Glücklich die, die drinnen sind, die´s
hinreißt, die´s übertönt.
S.477: Die Vergangenheit bleibt zurück, die Zukunft zögert,
die Gegenwart ist ohne Boden, aber die Herzen, sollten die nicht
des Schwebes Kräfte besitzen und sich erhalten im großen
Gewölk? (
) Mehr ist jetzt auch nicht zu leisten, als
daß die Seele übersteht, und die Not und das Unheil
sind vielleicht gar nicht vorhandener als vorher, nur greifbarer,
tätiger, sichtlicher. Denn die Not, in der die Menschheit
täglich lebt seit Anbeginn, ist ja eigentlich durch keine
Umstände zu steigern. Wohl aber sind Steigerungen der Einsicht
da in des Menschen unsägliche Not und vielleicht führt
das alles dazu; soviel Untergang - -als suchtene neue Aufgänge
- Abstand und Raum für den Ablauf.
S. 482: es ist keiner, der die Luft, die durch ihn hindurchstreicht,
zum Tönen brächte, nicht einmal zum Klagen,- es ist
eine Stille angehaltener, unterbrochener Herzen, ich bin gewiß,
es liebt keiner in dieser Zeit, soviel ein oder das andere Herz
jetzt auch leisten mag, es wirkt aus irgendwelchen allgemeinen
Vorräten menschlicher Güte, Wärme, Willigkeit und
Hingabe, es gibt nicht das Seine, sondern hinter jedem Handeln
sind uralte Vorratskammern der Menschennot aufgetan, auch Ihr
draußen handelt und ringt aus solchen Kräften, die
aufgespeichert waren in irgendwelchen Scheunen der unwillkürlichen
Gemeinsamkeit. Mich mutet es an, als ob unser Herz in jedem nur
ein weitergebendes wäre, beschränkt darauf, den Vorrat
anzustaunen, der durch seine Hände geht.
S. 485: das ungeheure Unheil schafft eine neue Skala des Empfindens,
da es so tief herunterreicht, steigt es auch weiter an, ist es
auch mehr, was man fühlt?
ebd.: Wunderbar freilich ist die Sichtbarkeit des Ertragens, Hinnehmens,
Leistens so großer Not auf allen Seiten, bei Allen. Größe
kommt an den Tag, Standhaftigkeit, Stärke, ein zum-Lebenstehen
quand memê --, aber wieviel in solchem Verhalten ist Verbissenheit,
ist Verzweiflung, ist (schon schon) Gewohnheit? Und kaum, daß
so Großes sich zeigt und bewährt, kann das irgend Schmerz
mindern, darüber, daß solches Wirrsal,solches Nicht-aus-und-ein-wissen,
die ganze trübe Menschenmache dieses heraufgereizten Schicksals.
Daß genau diese Nichts-als Heillosigkeit nötig war,
um Beweise von Herzhaftigkeit, Hingabe und Großheit zu erzwingen?
Während wir, die Künste, das Theater, in ebendenselben
Menschen nichts hervorriefen, nichts zum Aufstieg brachten, keinen
zu verwandeln vermochten. Was ist anderes unser Metier als Anlässe
zur Veränderung rein groß und frei hinzustellen,- haben
wir das so schlecht, so halb, so wenig überzeugt und überzeugend
getan? Das ist Frage, das ist Schmerz seit bald einem Jahr und
Aufgabe, daß mans gewaltiger täte, unerbittlicher.
Wie?
S. 492:
aber innerlich ists ein Abgrund, man lebt am Rande,
und unten liegen, vielleicht zerschlagen, wer weiß es, die
Dinge des früheren Lebens. Wars das? Sag ich mir hundert
Mal, wars das, was die letzten Jahre als ungeheurer Druck über
uns lag, diese furchtbare Zukunft, die nun unsere grausame Gegenwart
ausmacht?
ebd.: Was auch kommt, das Ärgste ist, daß eine gewisse
Unschuld des Lebens, in der wir doch aufgewachsen sind, für
keinen von uns wieder da sein wird. Die Jahre vor uns, so viele
es sind, was wirds sein, als, mit zitternden Knien, ein Abstieg
von diesem Schmerzgebirg, auf das man uns noch immer weiter hinaufschleppt
S. 494: Wie viel Vertuschung in den Städten, wieviel schlechteste
Zerstreuungen, welche Heuchelei im unentstellten Hinleben, unterstützt
durch gewinnsüchtige Literatur und erbärmliche Theater
und geschmeichelt von der widerwärtigen Presse, die sicher
an diesem Kriege viel Schuld hat und noch mehr Schuld daran, daß
Zweideutigkeit und Lüge und Fälschung das ungeheure
Geschehen zu einer Krankheit machen, wo es doch hätte eine
reine Raserei sein dürfen.
S. 510: Dies, wie ist es möglich zu leben, wenn doch die
Elemente dieses Lebens uns völlig unfaßlich sind? Wenn
wir immerfort im Lieben unzulänglich, im Entschließen
unsicher und dem Tode gegenüber unfähig sind, wie ist
es möglich dazusein?
S. 537 - 538: Diese Zustände des Erstarrens können ja
leicht Verwandlungen sein, innere Umbauten, auf die ein erneutes
Dastehen und Sich-Fülen folgt, wenn der Umbau geschehen ist,
vielleicht ist ers nun, das wäre möglich, - aber was
soll ein so Vollendetes mit sich anfangen, wenn es keine
Umgebungen vorfindet, nichts als Stürze und Untergänge?
S. 538: Und doch ist es jetzt so leicht, sich zu ihr zu stellen,
da man weniger als je zu den >>Oberen<< sich zählen
lassen möchte, viel mehr im Leiden unter den Untersten steht,
ärmer, eingeschränkter als sie, von womöglich noch
eindringlicherem Unrecht heimgesucht.
S. 541: Das Bewußtsein der jetzigen Welt, indem es sich
immer wieder in meinem Inneren bildet, sprengt alle meine Verältnisse.
Es muß - da so viele das Unmöglichste aushalten - es
muß wohl Schwäche sein, daß ich nur noch das
Ende dieser entsetzlich ratlosen Menschenmache herbeisehne und
jenseits davon, ehe alles verlorengeht, einen weit gemeinsamen,
gutgewillten Anfang. An dem erst wird mein Herz wieder beteiligt
sein. Bis dahin gehöre ich zu den Widerlegten, vom wirrsten
Gegenteil Verschütteten und habe keinen Anschluß als
da und dort an die aufgelehntesten Worte. Was hülfe es, daß
es die menschlichsten sind.
S. 549: Sie schreiben, das Weltbild, das äußere sowohl
wie das innere, habe sich von Grund auf geändert. Was ich
wahrnehme, mein lieber Freund, ist immernoch der heillose Abbruch
des früheren, an dem ich auf meine Art um so tiefer beteiligt
war, als es für mich in die offenste Zukunft überging.
Je länger die wirrseelige Unterbrechung dauert, desto mehr
sehe ich meine Aufgabe darin, das Gewesene fortzusetzen in seiner
Unbeirrtheit und unerschüpflichem Erinnern; mögen die
Bedingungen aus denen ich mich gebildet habe , immerhin abgelaufen
sein, ich meine ihren Auftrag so zeitlos verstanden zu haben,
daß ich ihn auch jetzt noch als unverbrüchlich und
endgültig betrachten kann.
S. 557: Ich sehne mich nach Menschen, durch die das Vergangene
in seinen großen Linien an uns angeschlossen und auf uns
bezogen bleibt; denn wie sehr wird gerade jetzt die Zukunft, je
kühner und gewagter man sich sie denkt, doch auch wieder
davon abhängig sein, ob sie in die Richtung der tiefsten
Traditionen falle und sich aus ihnen (
) bewege und auswerfe.
Helga Gandlgruber
h.gandlgruber@t-online.de
Moderne-Definitionen
"Das Wort »modern«
ist über seinen ursprünglichen Begriff hinausgewachsen,
es hat sich auch von dem der Mode, mit dem es verquickt wurde,
wieder losgelöst. [...] Es ist uns der Ausdruck geworden
für die Empfindung von der Notwendigkeit der entwick-lungsgeschichtlichen
Fortschrittes. [...]. Er [d.h. der moderne Mensch, H.G.] repräsentiert
das eine der zwei welterhaltenden Prinzipien: die Bewegungstendenz
gegenüber der Beharrungstendenz." Max Burckhard, 1899
Quelle: Burckhard, Max: Modern. In: Die Zeit. Wiener Wochenzeitschrift
für Politik, Volkswirtschaft, Wissenschaft und Kunst, 20/1899,
S. 185f.
"Daß aus dem Leide
das Heil kommen wird und die Gnade aus der Verzweiflung, daß
es tagen wird nach dieser entsetzlichen Finsternis und daß
die Kunst einkehren wird bei den Menschen - an diese Auferstehung,
glorreich und selig, das ist der Glaube der Moderne." Hermann
Bahr, 1890
Quelle: Bahr, Hermann: Die Moderne. In: Moderne Dichtung. Monatsschrift
für Literatur und Kritik, 1/1890, S. 13-15.
"Alle Erscheinungen der Gegenwart
deuten hin auf den Niedergang der Antike, den Anfang der Moderne.
Schon ist es ein Tagesklatsch geworden, das die Masse sich lockert,
nach Individuation ringt, daß sie sich loslöst von
der Religion und aller überkommener Autorität. [...]
Ich sehe eine Zeit kommen, die keine Tempel mehr baut und keine
Ge-fängnisse, die nur noch Werkzeuge fertigt, aber keine
Waffen. Kampf wird noch sein, aber nur ein Wettkampf in Forschen
und Erfinden, in Menschheitsdienst und Schöpfung. [...] Die
Aufgabe der Antike war es, das Menschliche von den Schlacken der
Tierheit zu befreien; das Ziel der Moderne ist es, das Menschliche
zum Göttlichen herauf-zubilden. [...] Mit vollem Bewußtsein
die Fortentwicklung der Menschheit anzustreben, das wird zum Wesen
der Moderne gehören." Heinrich Hart, 1890
Quelle: Hart, Heinrich: Die Moderne. Eine vorläufige Betrachtung.
In: Die Moderne. Halbmonatsschrift für Kunst, Literatur,
Wissenschaft und soziales Leben, 1/1891, S. 1-4.
"Ungemein charakteristisch
für den modernen Menschen ist sein Bedürfnis nach Klarheit
und Wahrheit in den persönlichen Angelegenheiten des Lebens.
[...] Jedenfalls liegt das Moderne nicht im Stoffe. Es liegt in
der neuen seelischen Auffassung, die der Dichter den gewöhnlichen
oder seltenen Erscheinungen des Tages gegenüber bekundet.
Es beruht in einer unendlich gesteigerten seelischen Anteilnahme
des Dichters an der Welt." Hans Landsberg, 1904
Landsberg, Hans: Die moderne Literatur. Berlin 1904, S. 2-38.
Svenja Gerl
svenja.gerl@stud.uni-muenchen.de
Definition Moderne
Der Begriff "Moderne"
wurde von Eugen Wolff im Jahre 1886 für die naturalistische
Literaturströmung des Jungen Deutschland geprägt. In
dem Berliner Literaturverein "Durch" (E. Wolff, A. Holz,
J. Schlaf. G. Hauptmann u.a.) ist die Moderne damals erstmals
substantiviert worden als Programm für eine Literatur des
sozialen und weltanschaulichen Kampfes um gesellschaftliche Neugestaltung.
Später wurde der Begriff von Hermann Bahr ("Zur Kritik
der Moderne", 1890) als Gegenbewegung zum, wie er betont,
"revolutionären und sozialistischen" Naturalismus
für alle neueren, vor allem anti-naturalistischen Strömungen,
also für Impressionismus, Symbolismus, Neuromantik und Décadence,
verwendet. In diesem Sinne gilt der Naturalismus heute als die
erste Phase der Moderne, seine ästhetisierenden Gegenströmungen
Symbolismus und Impressionismus als die zweite Phase.1 Zu den Autoren der Moderne gehören z.B. Arthur
Schnitzler, Hugo von Hofmannsthal Gerhart Hauptmann, Frank Wedekind,
Thomas Mann, Heinrich Mann, Franz Kafka, Rainer Maria Rilke, Hermann
Hesse, Robert Musil und Stefan Zweig, deren Werke beeinflußt
wurden durch die Geschehnisse des Ersten Weltkrieges, also in
einer Zeit der Bedrohung und Auflösung der deutschen und
europäischen Kultur verfaßt worden sind. Die Literatur
in dieser Zeit ist daher auch, im Gegensatz zu den deterministischen,
atheistischen und materialistischen Ansätzen des Realismus
und Naturalismus, insbesondere gekennzeichnet von nervöser
Dekadenz, Kraftlosigkeit, Verzicht und Todesmütigkeit, Verfall
und Zweifel am Fortschritt und übersättigter Kulturmüdigkeit.2 Letzteres schlägt sich beispielsweise in Hugo
von Hofmannsthals Griechendramen, in Schnitzlers "Hirtenflöte"
und in Th. Manns "Der Tod in Venedig" nieder. Besonders
die Werke Gerhart Hauptmanns zeigen die vielfältigen Ausprägungsformen
der Moderne, da sich hier deterministische, materialistische,
vitalistische, symbolistische, nihilistische, aktivistische, neuromantische
Tendenzen voneinander abheben oder sich verschränken.3
Das Bild des Verwaltungschaos und der verwirrenden Erkenntnissituationen
ist ein Bild der Moderne, das sich insbesondere bei Franz Kafka
wiederfindet. Alle Informationsvermittlungen und Erkenntnisvorstöße
verlaufen sich, so die Erzählform Kafkas, ins Labyrinthische,
Chaotische. Sie kommen nicht zum Ziel, sondern verstricken den
Sucher selbst in ein "lächerliches Gewirre", welches
unter Umständen aber doch "über die Existenz des
Menschen entscheidet" Die fragmentarische Offenheit seiner
Werke entspricht der Unabgeschlossenheit des Erkenntnisprozesses
der Moderne, die herausgefallen ist aus der traditionellen Metaphysik
und Theologie. Ironisch spricht Kafka die Erkenntnisproblematik
beispielsweise in den "Forschungen eines Hundes" aus:
"Was hat die Forschung, von unseren Urvätern angefangen,
entscheidend Wesentliches denn hinzuzufügen? Einzelheiten,
Einzelheiten und wie unsicher ist alles:"4.
Die hier sichtbare Erkenntniskritik Kafkas ist nicht nur Kritik
des traditionellen Wahrheitsbegriffs, sondern wesentlich auch
Kritik der modernen Erkenntnistheorie und ihrer Auflösung
von Wirklichkeit in Deutungen. 5
Kennzeichnend für die Moderne des 20. Jh. ist außerdem
das Bewußtsein, daß "Sprache nicht mehr tragfähige
Brücke zu den Phänomenen ist oder in ihren Elementen
soviel traditionell Mythologisches enthält, daß sie
zerschlagen werden muß" 6.
Die Vorstellung einer sprachskeptischen Moderne wird besonders
in Hofmannsthals Brief des Lord Chandos deutlich, der die moderne
Gebrochenheit des Bewußtseins und die Problematik der Entfremdung
von der Welt der Dinge beschreibt, oder bei Robert Musil, der
die "bekannte Zusammenhanglosigkeit der Einzelfälle"
beklagt. 7
Anmerkungen:
1 Vgl. hierzu Brockhaus; von Wilpert, Gero: Sachwörterbuch
der Literatur. Stuttgart, 1989 und Schreiber, Fricke: Geschichte
der deutschen Literatur. Paderborn, 1974. S. 262.
2 Vgl. hierzu: Fiedler, Leonhard: Deutsche Literaturgeschichte.
Bamberg, 1963. 10.Aufl. S. 312.
3 Vgl. hierzu: Krywalski, Dieter: Handlexikon zur Literaturwissenschaft.
S. 333.
4 Vietta, Silvio: Die literarische Moderne. S. 8.
5 Vietta, Silvio: Die literarische Moderne. S. 132.
6 Ebd.
7 Vietta, Silvio: Die literarische Moderne. S. 8.
Marijana Gersic
Die literarische und künstlerische Moderne und der Erste Weltkrieg
Der Erste Weltkrieg zerstörte
in vier Jahren das gesamte politische und soziale Gefüge
des alten Europa. Viele, auch unter den künstlerisch Schaffenden,
hatten eine militärische Entladung der nationalen und gesellschaftlichen
Spannungen vorausgeahnt, davor gewarnt oder darauf gehofft. Insgesamt
aber traf die Katastrophe die Menschen unvorbereitet und stürzte
mehr um, als irgend jemand hätte vorhersagen können.
Schon vor der Jahrhundertwende hatten auf allen künstlerischen
Gebieten neue, revolutionäre Strömungen eingesetzt.
Die Kunstrichtungen, die für das 20.Jahrhundert prägend
werden sollten, waren schon vor Beginn des Kriegs angelegt oder
hatten zum Teil sogar schon ihre Höhepunkte gesetzt. Der
Naturalismus, der die Lebensbedingungen der einfachen Menschen
thematisierte (Gerhart Hauptmann "Die Weber", "Die
Ratten", Arno Holz/Johannes Schlaf u.a.) stellte keine Herausforderung
mehr dar, Impressionismus und Symbolismus gehören noch zu
den Ausklängen des Fin de Siècle. Der Expressionismus
brach als gewaltige Neuerung um das Jahr 1910 in Malerei und Dichtung
ein. So wie Chagall Häuser und Menschen auf den Kopf stellte
oder Franz Marc Pferde in blau sah, suchten Dichter der Sprache,
ja dem einzelnen Wort, neue Einsichten und Wirkungen abzugewinnen.
Die Sprachzertrümmerung richtete sich gegen das herrschende
Weltbild einer scheinbar wohl geregelten bürgerlichen Ordnung,
die von den Künstlern als geistig flach und sozial ungerecht
erlebt wurde, und gegen ein affirmatives Kunstverständnis,
das nicht an den inneren Stillstand der Gesellschaft rührte.
Die meisten expressionistischen Künstler/ innen (Else Lasker-Schüler,
August Stramm, Trakl, Stadler, der junge Gottfried Benn, Brecht
, Döblin u.a) waren (anfangs) nicht im engeren Sinn politisch.
Sie suchten mit künstlerischen Mitteln ihre Gegnerschaft
zu den etablierten Wertsetzungen auszudrücken und damit die
Welt zu verändern. Anarchisches, Abgründiges, Erotisches
(hier besonders Wedekind) wurde durch Kunst gewissermaßen
eingeschmuggelt, nicht selten im Kampf mit der Zensur. Die Expressionisten
- im weitesten Sinn verstanden - suchten "das Wesentliche".
Doch auch humanistische, sozialistische, pazifistische, freiheitliche
Ideen waren subversiv.
Manche Autoren suchten - mehr oder weniger verschlüsselt
- auf konkrete politische Veränderungen hinzuwirken. Hier
ist in erster Linie Heinrich Mann zu nennen, der darin explizit
den Beruf des Schriftstellers sah. Carl Sternheim und viele andere
arbeiteten mit den Mitteln der Satire ("Simplizissimus"),
des Kabaretts, des Spotts.
Wie wirkte sich nun der Ausbruch des Krieges auf die künstlerischen
und politischen Programme und auf die Schriftsteller und Dichter
selbst aus?
Es ist auf den ersten Blick verwirrend, Namen wie Ernst Toller,
Richard Dehmel, Döblin, Kokoschka oder Georg Trakl unter
den anfangs begeisterten Kriegsfreiwilligen zu finden. Doch fast
alle waren sehr jung, und der nationale Taumel hatte einen starken
Sog. Manche erwarteten sogar von einem Krieg etwas wie ein reinigendes
Gewitter. Manche stimmten nur zum Selbstschutz einige patriotische
Töne an, wurden aber trotzdem - weil ihr bisheriges Wirken
schon ihre eigentliche aufmüpfige Gesinnung verraten hatte
- von den Nationalisten verbal scharf angegriffen, Stücke
wurden abgesetzt, die "Modernen" waren verdächtig.
Auch wo die kurzfristige Kriegsbegeisterung oder -befürwortung
echt war, wich sie schnell dem Entsetzen über die Realität.
Toller etwa schrieb 1917 mitten im Krieg sein erstes Stück
"Die Wandlung" und gründete mit anderen einen Kampfbund
für Völkerfrieden und zur Abschaffung der Armut. August
Stramm, Franz Marc, August Macke fielen an der Front. Trakl und
Kokoschka konnten ihre Kriegserlebnisse nicht verarbeiten und
griffen zu Rauschmitteln - Max Beckmann erlitt 1917 einen Nervenzusammenbruch.
Der Krieg griff tief in die Psyche der Künstler ein, auch
bei denjenigen, die nicht eingezogen wurden.
Die Produktion erlahmt: Während der Kriegszeit entstehen
auffallend wenige Werke. Doch es ist festzuhalten, daß weder
diese Arbeiten noch die nach dem Kriegsende wieder in reichem
Maß geschaffenen, wesentliche Veränderungen der Formsprache
und der geistigen Haltung aufweisen. Der Krieg bildet offenbar
nicht die Schnittstelle, die die künstlerische und literarische
Entwicklung markiert. Da er in der politischen Geschichte Europas
ein so wichtiges Ereignis darstellt, neigen in der Rückschau
viele, sogar manche Kulturhistoriker/ innen, dazu, seine Bedeutung
für die Entstehung der "modernen Kunst" und Literatur
zu überschätzen. Allenfalls trifft dies auf die 1916
- im neutralen Zürich! - geborene Dada-Bewegung zu, für
die er konstitutiv war. Aber eben nicht aus eigenem Erleben, sondern
aus einer geistigen Reaktion auf die Absurdität und Lächerlichkeit
des Weltgeschehens.
Bei genauerem Studium von Tagebüchern, Briefen und anderen
privaten Zeugnissen ließen sich sicherlich subtile Einflüsse
des Weltkriegs auf das Schaffen der einzelnen Autoren nachweisen.
Um feine Schattierungen dieser Art aufzuspüren, ist eine
gründliche Betrachtung dieser Quellen unerläßlich.
Aber die bedeutenden und berühmten Werke der Künstler/
innen des ersten Jahrhundertviertels zeigen das Kriegserlebnis
nicht als Bruch mit den vorher gehegten Ideen und den vorher geübten
formalen Ausdrucksformen. Alle Weichen waren schon mitten in der
behäbigen Zeit der Vorkriegsära gestellt.
Andrea Hambauer
andrea.hambauer@stud.uni-muenchen.de
1. Georg Simmel: Deutschlands innere Wandlung. Rede, gehalten in Straßburg, November 1914, in: Der Krieg und die geistigen Entscheidungen, München und Leipzig 1917, S. 25f.:
"Seit einer Reihe von Jahren gehen die geistigen Bewegungen in Deutschland, wie aus der Ferne freilich, fragmentarisch, mehr oder weniger bewusst, auf das Ideal eines neuen Menschen zu. Die Schicht, aus der dies Gedankengebilde sich entwickelt, beginnt, wenn ich richtig beobachtet habe, etwa vom Jahre 1880 an zusammenzuschießen. Außerhalb ihrer wohnt, wer um diese Zeit herum seine geistige Entwicklung schon abgeschlossen hatte; wer aber dann noch bildsam war, auf den haben Nietzsche und der Sozialismus gewirkt, der Naturalismus und das neue Verständnis der Romantik, Richard Wagner und die Technik der modernen Arbeit, das Wiederaufleben von Metaphysik und Religiosität und die spezifisch moderne, aus Veräußerlichung und Vergeistigung zusammengewebte Ästhetik der Lebensgestaltung. Gleichviel, wie annehmend oder ablehnend der Einzelne sich zu jedem dieser beiden Elemente gestellt hat: irgendwie hat er sich zu jedem gestellt, hat es zu einem positiven oder negativen Faktor seiner inneren Struktur werden lassen. Er ist der moderne Mensch geworden - freilich noch nicht der neue Mensch, von dem jetzt unsere Hoffnung spricht; aber er hilft dessen Fruchtboden bilden, aus solchen Menschen ist jene Schicht zusammengewachsen, derer wirr hin und her schießende Bestrebungen und Gläubigkeiten, Bejahungen und Verneinungen nun nicht mehr - und das ist das ganz Entscheidende - ein einzelnes Haben oder Sein, sondern die Idee eines neuen ganzen Menschen gemein haben. Das ist nicht ein einzelner in concreto möglicher Mensch (...) sondern eben eine übersinguläre Idee, wie der natürliche Mensch' Rousseaus es war, der (...) plötzlich einen neuen Begriff realisierender war, und in dem (...) alle möglichen Sehnsüchte und Wertungen des 18. Jahrhunderts zusammenschossen."
2. Kurt Tucholsky. Werke - Briefe - Materialien. Gesammelte Werke im Volltext. Ausgewählte Briefe und Q-Tagebücher. rororro-Monographie von Michael Hepp. Bibliographie. Bilddokumente. Digitale Bibliothek Band 15, Berlin 1999
"Aber eine gewisse mittelalterliche
apothekerhafte Schwerfälligkeit hat bis jetzt zu verhindern
vermocht, daß alle die Einrichtungen eines modernen Kaufmannsbetriebes
die Arbeit der Buchhändler erleichtern; ihre Abrechnungen
sind kompliziert, unerhört verwickelt, und nicht einmal die
Prozentberechnung ist überall durchgeführt."
[Werke und Briefe: 1914, Der deutsche Buchhändler, S. 43.
Digitale Bibliothek Band 15: Tucholsky, S. 665 (vgl. Tucholsky-GW
Bd. 1, S. 161) (c) Rowohlt Verlag]
"Ein durch Klugheit, Gleichmut,
Selbstbewußtsein erhöhtes Menschentum, ein wesentlicher
und wertvoller Teil der modernen Kultur«, sagt der Prospekt.
Nun, wollen sehen."
[Werke und Briefe: 1914, Tulla Durieux, S. 75. Digitale Bibliothek
Band 15: Tucholsky, S. 697 (vgl. Tucholsky-GW Bd. 1, S. 174) (c)
Rowohlt Verlag]
"Na . . . Maul . . . «
sagt der Bürger. »Wir waren gestern erschreckt, daß
die so moderne Marineverwaltung das Anbinden der Hände beim
strengen Arrest für eine ganz natürliche Strafe erklärte.
Es müßte . . . "
[Werke und Briefe: 1914, Vormärz, S. 124. Digitale Bibliothek
Band 15: Tucholsky, S. 746 (vgl. Tucholsky-GW Bd. 1, S. 194) (c)
Rowohlt Verlag]
"Auch daß einmal ein
ganzes Volk in berechtigtem Haß gegen ein andres aufflammt
und zu den Waffen greift, ist richtig und erklärlich, aber
man muß nicht vergessen, daß moderne Kriege wesentlich
auf kapitalistischen Gründen beruhen und daß alles
andre ein wohl angelegter Schwindel ist: die Volksbegeisterung
und die flatternden Fahnen und die Orden und alles das."
[Werke und Briefe: 1914, Der Sadist der Landwehr, S. 226. Digitale
Bibliothek Band 15: Tucholsky, S. 848 (vgl. Tucholsky-GW Bd. 1,
S. 239) (c) Rowohlt Verlag]
"Heute . . . ! Heute sind
wir so weit gekommen, daß der Berliner, der abends zu Hause
bleibt, nächstens noch polizeilich bestraft wird. Man geht
aus. Und die Psychologie der Ausgeher ist merkwürdig und
unverständlich, wie ihr ganzes Gehaben. Das Café,
das immer phantastischere Namen bekommt - wir haben schon ein
Luxus-Café -, wird von diesen Menschen wirklich als ein
sympathischer Kulturträger der Moderne empfunden. Nicht wahr,
da ist ein rauchiger Raum, mehr oder weniger bunt, denn auch das
gute Kunstgewerbe hat sich der Cafés angenommen, und meist
sind sie hübsch und aufdringlich eingerichtet, dicke Rauchschwaden
ziehen durch die Luft, hinten schnarrt und quiekt eine Kapelle,
es riecht nach Bier, Kaffee, Speisen und vielen menschlichen Parfums.
Ich habe eine Menge Cafés gesehen, solche mit Brillantenschiebern
und Kokotten und einem biederen Künstlerpublikum und solche
mit ausschweifenden Bourgeois und mit Ladenjünglingen und
ihren Verhältnissen . . ."
[Werke und Briefe: 1914, Café-Kultur, S. 19. Digitale Bibliothek
Band 15: Tucholsky, S. 9176 (vgl. Tucholsky-DT, S. 88) (c) Rowohlt
Verlag]
"An Hans Erich Blaich
ORION / EIN JAHRKREIS IN BRIEFEN
Bei Wedekind tritt einmal ein
Mann auf, der moderne Zeitschriften durchsieht. Er stöbert
und blättert in den Papieren: Der Tag, ruft er
verzweifelt aus, Die Woche, Das Jahr,
Das Jahrhundert, Das Jahrtausend. - Ists
nicht beinah wirklich so? Werden wir nicht überschwemmt mit
Zeitschriften, und haben wir die allzugleichen nicht allmählich
satt? Immer wieder dasselbe Bild: unter dem Titelkopf ein kluger
Leitartikel, dann ein Stück Roman oder eine Novelle, ein
paar Essays; hinten die Miszellen, Kleinigkeiten, Bücherbesprechungen
. . . "
[Werke und Briefe: 1914, An Hans Erich Blaich, S. 3. Digitale
Bibliothek Band 15: Tucholsky, S. 11069 (vgl. Tucholsky-BA, S.
17) (c) Rowohlt Verlag]
"Die Moderne um 1900
»Seele«, flüsterte er. Dann knallte ein Schuß.
Die aufgeschreckten Hausbewohner liefen durcheinander - - Schutzleute
bahnten sich einen Weg durch die Menge. Der Mann im Hausflur war
tot. Sein Blut sickerte durch den linken Ärmel auf den hellblau
und grünlich karierten Steinfliesboden und verrann in Rinnseln
in den staubigen Fugen . . . "
[Werke und Briefe: 1916, Die letzte Seite, S. 23. Digitale Bibliothek
Band 15: Tucholsky, S. 885 (vgl. Tucholsky-GW Bd. 1, S. 256) (c)
Rowohlt Verlag]
"Alle rufen den Namen eines
Liedes, das jedes Grammophon auswendig weiß. Er klingelt
es ihnen vor. Nach den ersten belanglosen Passagen, in denen der
merkwürdige Ton b in A-Dur dem Tondichter das Gefühl
höher schwellen ließ, es mit den polyphonsten Modernen
aufnehmen zu können, kommen jene berühmten sechzehn
Takte, die eigentlich nur ein großes Atemholen sind, die
Pause vor dem Schlag. Schlag zu -!"
[Werke und Briefe: 1916, Nebenan, S. 29. Digitale Bibliothek Band
15: Tucholsky, S. 890 (vgl. Tucholsky-GW Bd. 1, S. 258) (c) Rowohlt
Verlag]
"Was sagst du«, fragte
er schon im Fahrstuhl, »zu dieser lächerlichen Gründung
von meinem alten Sozius Gradnitzer: Träume-, Schäume-
und Fata-Morganen-Aktiengesellschaft! Niemals bekommt er die Konzession!
Außerdem ist das ein Unfug, den alten Fachmann mit seinem
tüchtigen, eingearbeiteten Personal durch so einen modernen
Kram zu ersetzen. Was sagst du?« - Anastasia sagte dasselbe."
[Werke und Briefe: 1917, Die Träume, S. 51. Digitale Bibliothek
Band 15: Tucholsky, S. 945 (vgl. Tucholsky-GW Bd. 1, S. 284) (c)
Rowohlt Verlag]
"Das Kapitel, das hier behandelt
werden soll, ist eines der traurigsten des deutschen Lebens. Und
es scheint mir an der Zeit, es zu behandeln, weil seine Helden
noch niemals den Kopf so hoch trugen wie heute, und weil sie nie
drückender auf ihren Untertanen lasteten als in diesen schweren
Tagen. Die Organisation des modernen Lebens hat es mit sich gebracht,
daß die Zahl derjenigen, die anderen Menschen vorgesetzt
worden sind, ins unermessliche angeschwollen ist. Jeder Mann ist
heute Vorgesetzter und Untergebener; jeder ist Glied in der Kette,
jeder hat zu befehlen und zu gehorchen. Das war früher anders.
Da befahl der eine, befahl ganz und gar, befahl ausschließlich
und in allem - und der andere gehorchte, gehorchte geduckt und
gebeugt und hatte nichts als zu gehorchen. Befehlen und herrschen
- das war eines."
[Werke und Briefe: 1918, Die kleinen Könige, S. 88. Digitale
Bibliothek Band 15: Tucholsky, S. 1043 (vgl. Tucholsky-GW Bd.
10, S. 175) (c) Rowohlt Verlag]
Eva
Huber
Eva.Huber@psy.med.uni-muenchen.de
"Ein Krieg könnte notwendig und sittlich sein; aber er sei die Krönung eines langen Ringens nach Wahrheit"
(Heinrich Mann 1915 über den Krieg)
Am Anfang des 20. Jahrhunderts
beginnt eine neue Epoche: die Moderne.
Zu diesem Zeitpunkt (1918) gehen sowohl das österreichische
als auch das deutsche Kaiserreich unter. Nach Ende des ersten
Weltkrieges versuchte man eine demokratische Staatsform, die Weimarer
Republik. Nach langem Kampf wurde 1920 das Wahlrecht für
Frauen eingeführt, was ein Anfangsschritt in Richtung Emanzipation
war. Auch das staatliche Versicherungswesen stellt eine Neuerung
zu dieser Zeit dar. Die Menschen konnten sich sicherer fühlen,
sollte ihnen etwas zustoßen.
Auch auf dem technischen Gebiet wurden viele Neuerungen und Erfindungen
gemacht: das erste motorisierte Flugzeug, die Glühbirne,
das Telefon, das Auto, der Zeppelin...
Auch an den Neuerungen in der Kriegsführung des ersten Weltkrieges
konnte man merken, dass eine neue Epoche begonnen hat. Aus dem
Kampf Mensch gegen Mensch wurde im Weltkrieg eine Materialschlacht.
Die Kampfmaschinen wurden verfeinert und weiterentwickelt, so
dass der Krieg an Grausamkeit gewonnen hat.
Nicht nur im gesellschaftlich-politischen Raum oder auf dem technisch-naturwissenschaftlichen
Gebiet gab es Neuerungen, sondern auch auf der literarisch-künstlerischen
Ebene:
Im Unterschied zum klassischen Roman, in dem die Zeit unter ihrem
gewohnten Namen erscheint, der Ort vertraut ist, die Erzählsituation
durch gehobene Sprache und "behaglich erzählendem Ton"
eingeführt wird, sind zahlreiche moderne Romane "Problemromane"
, die " atmosphärisch hoch gespannt oder gehaltlich
widerlich" erscheinen. "Kaum ein Satz der Bibel und
des Glaubens an die Menschheit, der nicht deformiert, durch die
Gosse der Parodie und des niederen Instinktes gezogen worden wäre.
Die Menschen werden als gemeine Scheusale gezeigt, als durchschnittliche
Mitläufer, arrivierte Manager, als Lügner und Lüstlinge,
Folterknechte und ausgelieferte Opfer." . Im modernen Roman
endet die Suche nach dem Lebenssinn nicht mehr in der Sinnfindung,
sondern die Frage nach dem Lebenssinn wird gar nicht mehr gestellt.
Der moderne Romanautor und seine "Figuren'" stimmen
der Welt aufgrund ihrer Erfahrungen nicht mehr zu; an der Stelle
eines früheren grundsätzlichen Jas steht nun eine grundsätzliche
Skepsis, wenn nicht sogar ein grundsätzliches Nein. "
Alle von der Gesellschaft der letzten drei Generationen öffentlich
vorgezeigten Ganzheiten von Lebenssinn - sei es von der preußisch-Wilhelminischen,
der kaiselich-österreichischen, der Weimarischen, der nazistischen
oder der jetzigen Wohlstandsgesellschaft - wurden im modernen
Roman mehr oder minder gänzlich als Scheinanspruch entlarvt."
.
Der traditionelle Roman hatte seinen Helden. Zu Beginn des ersten
Weltkrieges begann die Notwendigkeit eines Helden in frage gestellt
zu werden. "Der Held' wird jetzt zur synthetischen
oder parabolischen Figur, zum modellhaften Phänotyp'
oder zum schwer faßbaren Zentrum eines exemplarischen Ich-Bewusstseins,
in das der Autor das Erfahrungs-, Anschauungs- und Bewußtseinsmaterial
seiner Zeit hineinpackt." . Die Hauptfigur im modernen Roman
ist eine "geängstigte, geplagte, extrem stumpfe, extrem
gespaltene oder extrem Intellektuelle Kreatur." . Die heutigen
Schriftsteller zeigen mit Vorliebe Aspekte eines Menschen, die
Armut des Menschen, Ansichten von verschiedenen Standorten, Modellbedingungen
und Modellreaktionen, Beobachtungen, Beschreibungen und Vorstellungen
eines Falls." . Im modernen Roman wird auch keine Geschichte
mehr erzählt (= Fabel). "Wenn die Reflexion und denkerische
Analyse überhand nimmt, wird die Fabel unmöglich."
. "Nicht ein kausal geordnetes und in ursächlicher Folge
enthülltes Geschehen steht im Mittelpunkt ihrer [ der Autoren]
Romane, sondern die Assoziationen, Erinnerungen, die äußeren
und inneren Bilder, die Trieb-, Imaginations- und Gedankenreflexe,
welche die scheinbar kausale Logik des menschlichen Bewußtseins
verwandeln, welthaltiges Geschehen durch Bewußtseinslogik
spiegeln." - "(stream of consciousness')"
.
Auch den Erzähler gibt es im modernen Roman nicht mehr. "Den
überlegenen olympischen Erzähler, jenen Erzähler,
der seine Helden als wirkliche Gestalten vorstellt und seine fiktive
Handlung als wirkliches geschehen vorgibt, der zugleich die innersten
Regungen seiner Helden-Geschöpfe kennt, ihnen ihr Maß
an Erziehung, Leidenschaft, Begabung, Freiheit Erfolg und Tragik
zuteilt und ihre Schritte vom ersten bis zum letzten lenkt, dieser
Erzähler, der dem Leser alles Was, Wie und Warum klarmachen
kann, gibt es im modernen Roman nicht mehr." .
Literaturverzeichnis:
Herbert Kraft: Kafka. Wirklichkeit und Perspektive. Bebenhausen:
Rotsch 1972
André Banuls: Heinrich Mann. Stuttgart: Kohlhammer 1970
Max Brod (Hrsg.): Gesammelte Werke. Franz Kafka. Briefe 1902 -
1924. New York City: Schocken Books Inc. o.J.
Paul Konrad Kurz: Über moderne Literatur. Frankfurt am Main:
Knecht 1967
Birgit Klötzer
birgitkloetzer@web.de
Ernst Jünger, "Feuer
und Blut" Kap. 4. In ders.: "Sämtliche Werke",
Erste Abteilung, Tagebücher 1.
Der erste Weltkrieg. Stuttgart 1978, S. 469-481
Gemütlichkeit von Leuten, welche nicht die geringste Sorge drückt...und wir hoffen, daß vor unserem Angriff die Sonne die Felder noch trocknen wird. Beim Antreten des Bataillons auf dem Schloßhof regnet es immer noch. Trotzdem ist die Stimmung gut, vorzüglich sogar.
Vor uns hören wir schon das Tuckern der Maschinengewehre, und links neben uns, in ziemlicher Entfernung, schlagen in längeren Abständen Granaten ein, die man nach der bei uns üblichen Unterscheidung schon als Hausmarke bezeichnen kann. Sonst ist es ruhig, das sehen wir als gutes Zeichen an.
Der Erzähler distanziert sich von dem Kriegsgeschehen, indem er es als romantischen Ausflug deklariert. Gleichzeitig wird das Erleben eines erfahrenen Kriegers geschildert und der Schrecken hinter dem Aspekt des Bekannten (Hausmarke) verschleiert.
Aber was ich dann sehe von meiner kleinen Nische aus, diesem Erker, aus dem ich in den gähnenden Trichter wie in eine schauerliche Arena hinunterblicke, das fährt mir wie ein eisiger Schnitt durch das Herz und macht mich mit einem Schlage hilflos und gelähmt, wie eine grelle Erscheinung in einem gespenstischen Traum. Auf dieser Granate hat der Tod gehockt, er ist mitten ins volle Leben hineingesprengt.
Das Herz möchte ihr Bild von sich abwenden und nimmt es doch in allen Einzelheiten in sich auf.
Und gleich wird wieder die Erinnerung in ihrer ganzen Unerbittlichkeit wach...
Durch das Verwenden des Präsens
wird sich auf das Geschehen in seinem unmittelbaren Erleben konzentriert
und auf diese Weise der Schrecken der permanenten Bedrohung des
Lebens greifbarer dargestellt. Auffällig ist auch, daß
keine historischen Daten angegeben werden, womit darauf verwiesen
wird, daß nun der Krieg zu einem Ereignis wird, das so drastisch,
intensiv und traumatisch ist, daß alles andere keine Rolle
mehr spielt.
Mit Hilfe der Sprache wird versucht, das Geschehen darzustellen.
Somit wird das Trauma des Erzählers sichtbar, denn er verwendet
zum Beispiel unpersönliche Konstruktionen, wie "das
Herz" und nicht "mein Herz".
Einen Schutzschild kann der Erzähler nicht aufbauen, da die
Ereignisse, die er abwenden will, doch "in allen Einzelheiten"
aufgenommen werden.
Die Realität des Krieges und die Unerbittlichkeit der neuen
Waffen werden als traumatisches Ereignis erfahren, das Hilflosigkeit
produziert. Durch den Begriff "Arena" und die Positionierung
als Zuschauer wird versucht Distanz herzustellen, was nicht gelingt,
gleichzeitig erscheint das Erlebte wie ein gespenstischer Traum,
da es als Realität nicht greifbar ist.
Die Aussagen des Erzählers deuten die Kriegsneurosen an,
die in diesem Krieg epidemieartig auftraten und demzufolge ein
Problem für die militärische Führung darstellten.
Als Auslöser dieser Neurosen sah man unter anderen Aspekten
auch gefahrvolle Situationen im Krieg an, so zum Beispiel die
Explosion einer Granate. Im Zuge dieser Situation setzten sich
zeitgenössische Analytiker (Freud, Abraham, Ferenczi) intensiv
mit den Kriegsneurosen auseinander. So ist die Manifestation der
Kriegsneurose, die auch in dem Text von Jünger angedeutet
wird, eine Folge dieses Krieges und ein Krankheitsbild, das sich
im Kontext von Krieg und Moderne herauskristallisiert hat.
In diesem Zusammenhang ist zum Beispiel auch eine Novelle von
Robert Musil sehr spannend, die jedoch erst 1928 erschien: "Die
Amsel".
Franziska Meister
Franziska.Meister@campus.lmu.de
Erster Weltkrieg und literarische Moderne
Der erste Weltkrieg führte
nicht nur zu einer Neugliederung der Welt, sondern brachte auch
ein vollständig verändertes Europa hervor, das durch
den ersten Krieg im industriellen Maßstab zwangsmodernisiert
wurde. Damit ist gemeint, dass der sogenannte moderne Krieg in
einem Maß mechanisiert war, das die Welt vorher noch nicht
gesehen hatte. Innerhalb der vier Jahre wurden immer mehr und
immer grausamere Waffen erfunden und eingesetzt. Somit bot dieser
Krieg den zeitgenössischen Malern, die zu einem großen
Teil auch persönlich beteiligt waren keines der Motive mehr,
die frühere Schlachten ihnen geboten hätten. Statt dessen
Senfgaswolken, in rauchverhüllte Wüsten verwandelte
Schlachtfelder. Vor allem die jüngeren Künstler wagten
sich deswegen an makabre Darstellungen, benutzten kräftige,
beißende Farben bis hin zu einer kubistisch-futuristischen
Malweise, um das Erlebte in bildende Kunst umzusetzen. "Der
moderne Krieg konnte nur auf moderne Weise gemalt werden."
(Vorwort zur Ausstellung "Die Farbe der Tränen").
Für Thomas Mann war der Krieg eine "ungeheure Hoffnung",
wie er in seinem Essay "Gedanken zum Krieg" schreibt.
Darüber hinaus spricht er von Befreiung und Reinigung, die
der Krieg bringen sollte, da es mit der Welt so wie es bis zu
diesem Zeitpunkt war, nicht weitergehen könne. Auch er ist
der Meinung, dass der Krieg neue, in seinem Fall literarische
Formen verlangte, allerdings nicht, weil die Menschen durch erlebte
Gräuel dazu gezwungen werden, sondern weil der Dichter begeistert
ist "vom Krieg an sich, [...] als Heimsuchung, als sittliche
Not" (Thomas Mann: "Gedanken im Kriege" in Essay
Band1, S. 193). Aber nicht nur der Krieg brachte entscheidende
Veränderungen mit sich: Die rasanten Entwicklungen auf dem
Gebiet der Psychoanalyse boten den Schriftstellern ebenfalls neue
Mittel ihre Werke zu gestalten.
"Kafka und Benn gehören in ein experimentelles Jahrhundert",
schrieb Max Bense (Gottfried Benn: "Essays und Reden",
Rückseite des Umschlags). Kafka entdeckte hinter der Fassade
des Realismus eine zweite Wirklichkeit, er machte das Zugeständnis,
dass ihm der Zugang zur Metaphysik versperrt ist. Dieses Zugeständnis
wird als Hinweis auf eine neue Epoche, nämlich die Moderne
gedeutet. Darüber hinaus gilt Kafkas Werk "Die Strafkolonie",
dessen eigentlicher Held eine Maschine ist, als Parabel der Moderne.
Es geht um technischen Fortschritt, der, obwohl er bedrohlich
wirkt, nicht abgelehnt wird; der Wissenschaftler, der von den
neuen Errungenschaften geblendet wird, wird zu einer Karikatur
des modernen Materialismus. Die Humanität geht hinter der
Technik verloren.
Auch Gottfried Benn schreibt von einem "modernen Ich"
(Titel eines Essays in "Essays und Reden", S. 29), das
nach dem ersten Weltkrieg entstanden ist. Er betont die erstaunliche
Entwicklung der Technik, die eine Erstarkung des individuellen
Subjekts nach sich zog. Von einem Bewusstsein, das kaum die eigene
Stellung von der der anderen unterschied konzentrierte sich das
subjektive Lebensgefühl zu der Bewusstheit einer individuellen
Existenz. Benn bezieht zwar den Umbruch, von dem er spricht, nicht
direkt auf den ersten Weltkrieg, aber doch auf die Mechanisierung,
die zu der Gewaltigkeit des Krieges beigetragen hatte.
Literatusverzeichnis:
Benn, Gottfried: Essays und Reden in der Fassung der Fassung der
Erstdrucke. Hrg: Hillebrand, Bruno. Frankfurt am Main 1989. Fischer
Taschenbuchverlag GmbH
Mann, Thomas: Essays. Band1, Frühlingssturm 1892-1918. Hrg:
Kurzke, Hermann und Stachorski, Stephan. Frankfurt am Main 1993.
S. Fischer Verlag GmbH
Mann, Thomas: Essays. Band2, Für das neue Deutschland 1919-1925.
Hrg: Kurzke, Hermann und Stachorski, Stephan. Frankfurt am Main
1993. S. Fischer Verlag GmbH
Internet:
www.art-ww1.com/d/present.html
(Vorwort zur Ausstellung "Farbe der Tränen")
www.deslit.de/Kafka/kolonie.htm
Dominik Petzold
dominikpetzold@hotmail.com
Wahrnehmungen des Ersten Weltkrieges Textauszüge
Arnold Zweig, Der Streit um
den Sergeanten Grischa. Potsdam 1928
[S. 65] Krieg ist keine kleine Sache; wenn er erst angefangen
hat, macht er sich haben auch viele häßliche Salven
abgegeben. Alle Soldaten sind gleich.
[S. 195f.] Früher, vor wenigen Wochen noch, lag ihm die Flinte,
ein vertrauter, lustvoller Gegenstand. gedankenlos in der Hand.
Die Lust des tötenden Menschen, der seine Wirkung in die
Weite streut, als vermöge er auf Hunderten von Metern zu
pusten und ein Leben auszulöschen wie ein Flämmchen,
das es ja auch war, hatte ihn erfüllt und schwellend hochgetragen;
er war der Mann mit dem Bajonett, der Fechter und Stößer
im leidenschaftlich hellen Rausch seiner tatfroh wirbelnden Glieder.
Jetzt empfand er dumpf auch den Mann auf der Gegenseite als den
nicht nur, der auch eine Kugel losschnellt, sondern auch als den,
den sie trifft, der den Schlag und das Loch in sein Fleisch erhält,
den Stoß und den grausigen Schmerz inmitten seiner Person
fühlt.
[S. 276[ Das Leben ist so einfach... lch habs gefunden. Es regiert
nichts Böses in der Welt und kein. Übel. Alles ist klar
und gut und freundlich und der Krieg ein Irrtum weit und breit.
Aus Gewehrschäften macht man Hammerstiele; für Stahl
und Eisen ist werkzeugliche Verwendung.
Ludwig Renn, Krieg. In: Gesammelte
Werke in Einzelausgaben, Band 3. Berlin, Weimar 1985
[S. 101f.] Gegen Abend hörte ich rechts ein Stöhnen,
das sich wiederholte. Ziesche begann sich auch unter der Zeltbahn
zu bewegen. Weiß schien zu schlafen. Aber nach einer Weile
bewegte er die Hand. Ich kroch zu ihm. In unserem Loch stand eine
Pfütze. Ich deckte ihm das Gesicht auf.
Brauchst du etwas?"
"Nein", lächelte er. "Mir geht's gut."
Ich versuchte wieder zu lächeln, aber konnte es nicht. Ich
deckte ihn wieder zu. In mir krampfte es sich: der stirbt! -
Aber wenn er sich doch wohl fühlt? Man kann sich doch nicht
freuen, auch wenn einer angenehm stirbt. - Aber vielleicht ist
es wirklich nicht so schlimm? [...]
Mehrere Menschen bewegten sich auf uns zu. Es war eine Patrouille
mit Krankenträgern. Wir übergaben ihnen unsere Verwundeten.
Ich gab Ziesche und Weiß die Hand, wußte aber weder
etwas zu sagen noch nur zu denken. Den Eckold wagte ich nicht
anzurühren.
Ernst Jünger, Der Kampf
als inneres Erlebnis. In: Werke. Band 5: Essays I. Betrachtungen
zur Zeit. Stuttgart 1961
[S.19f.] Auch aus Blutdurst. Das ist neben dem Grauen das zweite,
was den Kämpfer mit einer Sturzflut roter Wellen überbrandet:
der Rausch, der Durst nach Blut, wenn das zückende Gewölk
der Vernichtung über den Feldern des Zornes lastet. So seltsam
es manchem klingen mag, der nie um Da-Sein gerungen: Der Anblick
des Gegners bringt neben letztem Grauen auch Erlösung von
schwerem, unerträglichem Druck. Das ist die Wollust des Blutes,
die über dem Kriege hängt wie ein rotes Sturmsegel über
schwarzer Galeere, an grenzenlosem Schwunge nur der Liebe verwandt.
Sie zerrt schon im Schoße aufgepeitschter Städte die
Nerven, wenn die Kolonnen im Regen glühender Rosen den Morituri-Gang
zum Bahnhof tun. Sie schwelt in den Massen, die sie umrasen mit
Jubelruf und schrillen Schreien, ist ein Teil der Gefühle,
die auf die zum Tode schreitenden Hektakomben niederschauern.
Gespeichert in den Tagen vor der Schlacht, in der schmerzhaften
Spannung des Vorabends, auf dem Marsche der Brandung zu, in der
Zone der Schrecknisse vorm Kampf aufs Messer, lodert sie auf zu
knirschender Wut, wenn der Schauer der Geschosse die Reihen zerschlägt.
Sie ballt alles Streben um einen Wunsch: Sich auf den Gegner stürzen,
ihn packen, wie es das Blut verlangt, ohne Waffe, im Taumel, mit
wildem Griff der Faust. So ist es von je gewesen.
Das ist der Ring von Gefühlen, der Kampf, der in der Brust
des Kämpfers tobt, wenn er die Flammenwüste der riesigen
Schlachten durchirrt: Das Grauen, die Angst die Ahnung der Vernichtung
und das Lechzen, sich im Kampfe völlig zu entfesseln. Hat
er, eine durch das Ungeheure rasende kleine Welt in sich, die
bis zum Platzen gestaute Wildheit in jäher Explosion, dem
klaren Gedächtnis für immer verlorenen Augenblicken
entladen, ist Blut geflossen, sei es eigener Wunde entströmend
oder das des anderen, so sinken die Nebel vor seinen Augen. Er
starrt um sich, ein Nachtwandler, aus drückenden Träumen
erwacht. Der ungeheuerliche Traum, den die Tierheit in ihm geträumt
in Erinnerung an Leiten, wo sich Mensch in stets bedrohten Horden
durch wüste Steppen kämpfte, verraucht und läßt
ihn zurück, entsetzt, geblendet von dem Ungeahnten in der
eigenen Brust, erschöpft durch riesenhafte Verschwendung
von Willen und brutaler Kraft.
Dann erst erkennt er den Ort, an den ihn der stürmende Schritt
verschlagen, erkennt das Heer von Gefahren, denen er entronnen,
und erbleicht. Hinter dieser Grenze beginnt erst der Mut.
[S. 104] Ja, wir sind fröhlich und siegesgewiss. Diese Tage
und Nächte vor dem Kampfe haben einen seltsamen Reiz. Alles
Beschwerende sinkt ins Unwesentliche, der Augenblick wird köstlicher
Besitz. Zukunft, Sorge, alles Lästige, mit dem uns trübe
Stunden überschwemmten, wird wie ein ausgerauchtes Zigarettenende
zur Seite geschleudert. In wenigen Stunden wird vielleicht jene
verworrenen Insel hinter uns verblassen, der wir als Robinsons
unter vielen unseren Sinn zu geben versuchten. Das Geld, diese
Quelle der Sorge, wird Überfluss und Unsinn, man vertrinkt
den letzten Taler, und sei es nur, um ihn loszuwerden. Eltern
werden weinen, doch die Zeit nimmt alles hinweg. So viele Männer
auch fallen, das Mädchen wird immer noch einen finden, und
ihre Liebe zu dem Toten wird mit der neuen zu einem Gefühle
sich wandeln. Freunde, Wein, Bücher, die reiche Tafel süßer
und bitterer Genüsse, alles wird mit dem Bewußtsein
verflackern wie das letzte Kerzenlicht am Weihnachtsbaum. Man
stirbt mit der Hoffnung, daß es der Welt gut gehe, und fühlt
im letzten Zucken gerade noch, wie ilüchtig man im Grunde
an Menschen und Dingen vorübergeschritten ist. Der große
Abend, Lösung, Vergessen, Untergehen und Rückkehr aus
der Zeit in die Ewigkeit, aus dem Raum in das Unendliche, aus
der Persönlichkeit in jenes Große, das alles im Schoße
trägt.
Michael Triebel
Die Zeit um die Jahrhundertwende
ins 20. Jahrhundert wird mit dem Schlagwort "Die Moderne"
bezeichnet. Was allerdings macht diesen Zeitabschnitt zu einem
modernen und worin äußert sich dies?
Um der Frage nachzugehen, inwieweit bei zeitgenössischen
Autoren etwas von dieser modernen Zeit festzustellen ist, soll
im Folgenden "Die Welt von Gestern. Erinnerungen eine Europäers"
von Stefan Zweig im Mittelpunkt der Betrachtungen stehen. [alle
Zitate aus der Ausgabe Frankfurt/Main 1987]
Stefan Zweig, der 1881 in Wien geboren wurde, gibt bereits im
Vorwort seines Werkes einen kurzen Hinweis darauf, dass er in
diesem Buch, obgleich es sich um eine Autobiographie handelt,
nicht so sehr sein persönliches Schicksal in den Vordergrund
schreiben will, sondern "das einer ganzen Generation - unserer
einmaligen Generation, die wie kaum eine im Laufe der Geschichte
mit Schicksal beladen war. Jeder von uns, auch der Kleinste und
Geringste, ist in seiner innersten Existenz aufgewühlt worden
von den fast pausenlosen vulkanischen Erschütterungen unserer
europäischen Erde" [S. 7]. Im Gespräch mit jüngeren
Freunden stellt Zweig immer wieder fest, "wieviel für
sie schon historisch oder unvorstellbar von dem geworden ist,
was für mich noch selbstverständliche Realität
bedeutet." [S. 9] Zwischen dem Heute, dem Gestern und dem
Vorgestern sind "alle Brücken abgebrochen" [S.
9].
Doch was unterscheidet diese Zeit von der davor, was unterscheidet
diese Generation von den vorangegangenen? Die Antwort auf diese
Frage lässt sich bei Stefan Zweig nachlesen, wenn er folgenden
Vergleich anstellt: "Mein Vater, mein Großvater, was
haben sie gesehen? Sie lebten jeder ihr Leben in der Einform.
Ein einziges Leben vom Anfang bis zum Ende, ohne Aufstiege, ohne
Stürze, ohne Erschütterung und Gefahr, ein Leben mit
kleinen Spannungen, unmerklichen Übergängen; in gleichem
Rhythmus, gemächlich und still, trug sie die Welle der Zeit
von der Wiege bis zum Grabe.[...] Irgendein Krieg geschah wohl
irgendwo in ihren Tagen, aber doch nur ein Kriegchen, gemessen
an den Dimensionen von heute, [...] und nach einem halben Jahr
war er erloschen, vergessen, ein dürres Blatt Geschichte,
und es begann wieder das alte, dasselbe Leben. Wir aber lebten
alles ohne Wiederkehr, nichts blieb vom Früheren, nichts
kam zurück" [S. 9].
Um den Zeitraum von der Jahrhundertwende bis hin zum ersten Weltkrieg
in eine "handliche Formel" [S. 13] zu packen, verwendet
Stefan Zweig den Ausdruck des "goldene[n] Zeitalter[s] der
Sicherheit" [S. 13]. Alles in der fast tausendjährigen
österreichischen Monarchie schien auf Dauer gegründet
zu sein. "Jeder wußte, wieviel er besaß oder
wieviel ihm zukam, was erlaubt und was verboten war. Alles hatte
seine Norm, sein bestimmtes Maß und Gewicht." [S.13]
Es schien zu jener Zeit also alles festgefahren in der Zufriedenheit
über die Sicherheit; das Gefühl der Sicherheit war der
"anstrebenswerteste Besitz von Millionen, das gemeinsame
Lebensideal." [S. 14]
Im Zusammenhang mit der Sehnsucht nach Sicherheit erlebte auch
das Versicherungswesen einen kräftigen Boom; man konnte sich
gegen alles versichern lassen. Doch gerade in diesem "rührenden
Vertrauen, sein Leben bis auf die letzte Lücke verpalisadieren
zu können gegen jeden Einbruch des Schicksals, lag trotz
aller Solidität und Bescheidenheit der Lebensauffassung eine
große und gefährliche Hoffart." [S. 14]
Das feste Vertrauen auf diese durch nichts und niemanden zu erschütternde
Sicherheit war sicher mit verantwortlich dafür, dass das
neunzehnte Jahrhundert "in seinem liberalistischen Idealismus
ehrlich überzeugt [war], auf dem geraden und unfehlbaren
Weg zur >besten aller Welten< zu sein." [S. 14]
Auf vergangene Epochen, die von "Kriegen, Hungersnöten
und Revolten"" gekennzeichnet waren, blickte man verächtlich
herab; man glaubte, die Menschen seien damals eben noch "unmündig
und nicht genug aufgeklärt gewesen." [S. 14]. Jetzt
allerdings glaubte man, es könne nicht mehr allzu lange dauern,
bis auch "das letzte Böse und Gewalttätige endgültig
überwunden sein würde" [S. 14].
Bestärkt wurde dieses Vertrauen auf eine kontinuierliche
Besserung und auf einen stetigen Aufstieg der Menschen durch den
sich immer rasanter bahnbrechenden Fortschritt der Wissenschaft
und der Technik. In ganz unterschiedlichen Bereichen ließ
sich dieser Fortschritt beobachten: "Auf den Straßen
flammten des Nachts statt der trüben Lichter elektrische
Lampen, [...], schon konnte dank des Telephons der Mensch zum
Menschen in die Ferne sprechen, schon flog er dahin im pferdelosen
Wagen mit neuen Geschwindigkeiten, schon schwang er sich empor
in die Lüfte im erfüllten Ikarustraum." [S. 15]
An "barbarische Rückfälle" [S. 15], wie zum
Beispiel Kriege zwischen den Völkern in Europa, glaubte man
nicht.
Stefan Zweig resümiert die Einstellung der damaligen Zeit
folgendermaßen "Beharrlich waren unsere Väter
durchdrungen von dem Vertrauen auf die unfehlbar bindende Kraft
von Toleranz und Konzilianz. Redlich meinten sie, die Grenzen
von Divergenzen zwischen den Nationen und Konfessionen würden
allmählich zerfließen ins gemeinsame Humane und damit
Friede und Sicherheit, diese höchsten Güter, der ganzen
Menschheit zugeteilt sein." [S. 15]
Martina Weber
ti_web@hotmail.
com
"Modern sind alte Möbel
und junge Nervositäten"
Aspekte der literarischen Moderne aus der Perspektive der Jahrhundertwende
Im Morgenblatt der Neuen Frankfurter
Zeitung erschien am 9. August 1893 ein Artikel des gerade 19-jährigen
Hugo von Hofmannsthal über den italienischen Dichter Gabriele
d'Annunzio. Bevor er sich jedoch dem eigentlichen Werk widmet,
setzt der junge Wiener programmatisch eine Beschreibung dieser
leichter zu fühlenden als zu definierenden Empfindung voran,
die seine Generation ergriffen habe, dieses "Merkwort der
Epoche", modern. Hofmannsthal sucht dieses Phänomen
von zwei Eckpunkten her zu fassen: ,die Analyse des Lebens und
die Flucht aus dem Leben" manifestieren sich für ihn
als Experimentiertrieb und Schönheitstrieb in seiner Zeit.
Auf der einen Seite steht der rasante Fortschritt von Wissenschaft,
Technik, Medizin, der den Transfer auf Kunst und Literatur nach
sich zieht und in der Verbindung mit den sozialtheoretischen Ansätzen
- vorwiegend aus Frankreich - die Entstehung des Naturalismus
erst bedingt. Wenn Hermann Bahr die Moderne als Gegenbewegung
nach dem naturalistischen Zwischenakt heraufbeschwört, bedient
er sich bei eben dessen Schlagwörtern, die er unter der Fahne
des Nervösen umwertet. Der Ausdruck stelle das Bindeglied
beider Bewegungen dar, der Gang nach innen in der Suche nach der
Wahrheit die unüberbrückbare Differenz in der breiten
Vielfalt der Wege, das sogenannte Moderne aufzuschlüsseln.
Von August Strindbergs Wirkung im Berliner "Schwarzen Ferkel"
über Frank Wedekinds 1891 publiziertes "Frühlingserwachen"
bis in den Wiener Zirkel hinein läßt sich diese unruhige
Jagd beobachten; mit der Veränderung der Wahrnehmung kam
notwendig, die auf ihr fußende gesellschaftliche Ordnung
und so letztlich auch die über sie definierte literarische
Welt ins Wanken. Die Nerven gelten spätestens seit Joris-Karl-Huysmans
"A Rebours" als der unmittelbarste Zugang in dieses
sich destabilisierende Innere; der "auflösende"
Blick des sezierenden Ästheten, der begonnen hatte, tiefer
in das Bewußt-Sein des Menschen vorzudringen, führt
nun zu den Studien über die Hysterie von Dr. Josef Breuer
und schließlich zur Psychoanalyse Freuds wie zur Zerlegung
des menschlichen Innenlebens als Baukasten im Machschen Sinne
- oder um in Hofmannsthals Worten zu sprechen, zur "Anatomie
des eigenen Seelenlebens".
Es ist demgemäß kaum möglich, ein Einheit suggerierendes
Bild aus dieser Zeit heraus zu skizzieren, die sich selbst aus
verschiedensten Blickwinkeln auf die verkommene Gesellschaft zu
entwerfen suchte. Trotzdem sahen sich die Literaten vor der Jahrhundertwende
- wenigstens soweit es den Wiener Kreis betrifft - weniger als
literarische Revolutionäre, sondern erfuhren ihre Zeit als
schwer zu bestimmende Schwellensituation, die mit dem Repertoire
der Modifikationen etwas Neues hervorzubringen suchte, ohne auch
nur der Gewißheit zu trauen, daß dieses Andere überhaupt
existiert: "Vielleicht betrügen wir uns. Vielleicht
ist es nur Wahn, daß die Zeit sich erneut hat. Vielleicht
ist es nur der letzte Krampf, das überall stöhnende,
der letzte Krampf vor Erstarrung in das Nichts"
(Hermann Bahr).
Ein faszinierendes Beispiel dieser Synthese aus einer psychologischen
Versuchsanordnung und dem tastenden Schritt in ein nicht greifbares
Neues bietet Hofmannsthals "Elektra" dar. In den Begegnungen
der ehemals antiken Figur rekapituliert der Dichter parallel zu
der ihm Chandos-Brief thematisierten Sprachkrise wesentliche Diskursfelder
der Jahrhundertwende, aus denen ich die Referenz zur Zeit als
eines der Leitmotoive beispielhaft kurz herausgreifen möchte.
Der als fiktives Zwiegespräch mit Agamemnon fungierende Monolog
zeigt Elektras Erstarrung im Festhalten an dem Moment des Mordes,
der ihr ganzes Sein beherrscht; Chrysothemis dagegen unterliegt
in ihrer Sehnsucht nach der Veränderung der Situation der
in ihrer Schwester verkörperten Macht der Erinnerung, während
Klytämnestras Person sich in der Verdrängung des Mordes
destabilisiert; indem sie den tödlichen Augenblick ausblendet,
zerstört sie die zeitliche Kontinuität, ohne die das
Ich zerfallen muß. Alle drei Frauenfiguren definieren sich
damit über ihr jeweiliges Verhältnis zur Zeit, das im
Drama durchgespielt wird. Die wirkungsgeschichtliche Resonanz
belegt eindrucksvoll, daß Hofmannsthal mit der "Elektra"
einen Nerv seiner Zeit getroffen hatte. Mit der damit einhergehenden
Abkehr vom lyrischen Drama, von der elitären Kunst eines
Stefan George wandte sich er sich gegen den blanken Ästhetizismus.
Mit seinem Essay "Der Dichter und diese Zeit" erklärt
er schließlich den Autor schließlich zum leidend-genießenden
Beobachter der Zeit, zum Medium, das die Elemente der Zeit in
sich zu verknüpfen weiß. Der Schönheitstrieb hatte
ohne eine in der Realität verwurzelte Basis seine Bedeutung
verloren; Literatur stellte sich zunehmend der zeitgenössischen
Diskussion.
Auf der anderen Seite findet der Ästhetizismus seine Abverwandlung
in der doppelbödigen Inszenierung der Gesellschaft wie sie
etwa Arthur Schnitzler betreibt, um diesen Aspekt hier nur mehr
kurz anzureißen. Der folgende Eklat um Schnitzlers im Dezember
1900 in der "Neuen Freien Presse" veröffentlichte
Novelle "Leutnant Gustl" demonstriert von österreichischer
Seite her eine vom Militarismus mit seinen Idealen durchdrungene
Na6on, die in ihrem absoluten Anspruch den Einzelnen ihren Normen
unterwirft; wo Hofmannsthal erst in dem "exaltierten Ton
von der Mama" Adelaide aus seiner "Arabella° den
Spagat zwischen der Konvention und dem Individuum rückläufig
beleuchten wird, führt Schnitzler in seinen Novellen und
vor allem den Einaktern die absurde Falschheit der äußeren
Umstände immer wieder vor Augen. Auf preußischer Seite
gipfelt diese Bloßlegung der zivilen Variante des Spießbürgertums
1914 schließlich in die Katastrophenmentalität des
"Untertanen" Diederich Heßling von Heinrich Mann.
Gerade dieses Abarbeiten an der verbrauchten Zeit kennzeichnet
die modernen Bestrebungen; allerdings wurden sie bereits an der
Jahrhundertwende in verschiedene Bahnen kanalisiert. Derartiger
Kritik steht umso entschiedener die Affirmation der nationalen
Selbstbestimmung gegenüber. Aus einer europaweit sich proklamierenden
Moderne diffundiert nicht nur der Gedanke einer übergreifenden
kulturellen Identität, sondern auch ein fataler imperialistischer
Nationalismus, der in den folgenden Jahren zur beherrschenden
Strömung heranwächst, den Weg in den ersten Weltkrieg
weisen wird und Hofmannsthals Wort aus dem Jahre 1893 Lügen
straft: "erst aus der Perspektive des Nachlebenden ergibt
sich das Grundmotiv der verworrenen Bestrebungen". Die Illusion
einer einheitlichen Zielsetzung scheiterte am aufbrechenden Nationalismus
einer zutiefst verunsicherten Zeit, die sich in der Moderne auf
die Suche nach Erneuerung gemacht hatte.