Moderne und Krieg

Zitate

a) "Dossiers"

Vera Bachmann
verabachmann@gmx.de

Zeitgenössische Moderne -Definitionen

»Jüngste Deutschland, das, auch Die Moderne (nach Herm. Bahr) gen., Sammelname für e. Gruppe von Schriftstellern, die, bewegt von naturwissensch. u. sozialen Problemen der Zeit, in den 80er u. 90er Jahren des 19. Jahrhunderts (teils unter der starken Einwirkung ausländ. Zeitdichter, bes. Goncourts, Zola, Tolstoi, Ibsen, Strindberg, teils auf eignen, vorwiegend Großstanderfahrungen fußend) eine neue, zeitweise rein naturalistisch gerichtete Kunstauffassung vertraten, jedoch frühzeitig auch anderen (z.B. symbolistischen) Einflüssen zugänglich waren und sich so rasch um die innere Einheit brachten (eine äußere bestand nie). Die erste Phase trug mehr lyrischen Charakter (H. u.J. Hart, Holz, Conradi,Henckell, typisch: Mod. Dichtercharaktere. 1885) u. war wenig eigenartig, da starke Talente fehlten. Die zweite brachte den raschen u. erfolgreichen Aufstieg einer entschlossen realistisch dramat. u. epischen Kunst (Hauptmann, Halbe, Sudermann, Schlaf, Kretzer, Polenz u.a.). Ein wichtiges Moment für das neue dram. Leben war die Gründung der Berliner Freien Bühne (1899. Brahm, Schlenther, G. Fischer). Die wichtigsten Zeitschriften waren Die Gesellschaft (M.G. Konrad, W. Kirchbach, Hans Merian), die freie Bühne (Holz, Schlenther, Brahm) u. Pan (Bierbaum)«

[über die modernen Dichtercharaktere:] »Schrankenlose, unbedingte Ausbildung ihrer künstlerischen Individualität ist ja die Lebensparole dieser Rebellen und Neuerer.[...] Gleich stark und gleich wahr lebt in Allen [...] das grandiose Protestgefühl gegen Unnatur und Charakterlosigkeit; gegen Ungerechtigkeit und Feigheit[...], gegen Heuchelei und Obscurantismus; [...] Denn das ,Credo' soll [...] den Modus charakterisieren, in dem die neue Richtung sich ausgibt. Sie will mit der Wucht, mit der Kraft, mit der Eigenheit und Ursprünglichkeit ihrer Persönlichkeiten eintreten und wirken; sie will sich geben, wie sie leben will: wahr und groß, intim und confessionell. Sie protestirt damit gegen die verblaßten, farblosen, alltäglichen Schablonennaturen, die keinen Funken eigenen Geistes haben und damit kein reiches und wahrhaft verinnerlichtes Seelenleben führen. Sie will die Zeit der »großen Seelen und tiefen Gefühle« wieder begründen.«

»Die moderne Kunst, wo sie ihre lebensvollsten Triebe ansetzt, hat auf dem Boden des Naturalismus Wurzel geschlagen. Sie hat, einem tiefinnern Zuge dieser Zeit gehorchend, sich auf die Erkenntnis der natürlichen Daseinsmächte gerichtet und zeigt uns mit rücksichtslosem Wahrheitstriebe die Welt wie sie ist. Dem Naturalismus Freund, wollen wir eine gute Strecke Weges mit ihm schreiten, allein es soll uns nicht erstaunen wenn [...] die Straße plötzlich sich biegt und überraschende neue Blicke in Kunst und Leben sich auftun. Denn an keine Formel, auch an die jüngste nicht, ist die unendliche Entwicklung menschlicher Kultur gebunden, und in diser Zuversicht, im Glauben an das ewig Werdende, haben wir eine freie Bühne aufgeschlagen, für das moderne Leben«

»Daß aus dem Leide das Heil kommen wird und die Gnade aus der Verzweiflung, daß es tagen wird nach dieser entsetzlichen Finsternis und daß die Kunst einkehren wird bei den Menschen - an diese Auferstehung, glorreich und selig, das ist der Glaube der Moderne«

»Es war ein völliger Wendepunkt im deutschen politischen Leben [...]. Ebenso sah sich aber auch die werdende neudeutsche Kultur durch diesen Umschwung vor eine Fülle von Problemen gestellt. Das revolutionäre Geschlecht, das damals gegen die Epigonenliteratur Sturm lief, war gar nicht in erster Reihe von ästhetischen Bedürfnissen ausgegangen. [...] und so begehrte man keineswegs einen neuen Stil, sondern neue Stoffmassen, neues Blut, überhaupt eine völlige Auffrischung von Literatur und Leben. Die Schönheit wurde mit Bannstrahlen förmlich überschüttet, und Wahrheit lautete jetzt das Schlagwort, Wahrheit um jeden Preis, mochte darüber auch die ganze bisherige Kunst und Kultur zum Teufel gehen.«

»Der modernen Poesie nun eignet noch längst nicht jene Abgeschlossenheit, die erforderlich ist für das Begreifen ihrer Wesenheit. Sie steht nicht als Objekt vor uns, sie lebt als Subjekt in uns.« (S. 250)
»Die Kunst früherer Tage gleicht einem Fest- und Feiertag, hingegen das ganze Streben der modernen Dichtung darauf hinausgeht, den Alltag zu idealisieren.« (S. 255)
»Jedenfalls liegt das Moderne nicht im Stoffe. Es liegt in der neuen seelischen Auffassung, die der Dichter den gewöhnlichen oder seltenen Erscheinungen des Tages gegenüber bekundet. Es beruht in einer unendliche gesteigerten seelischen Anteilnahme des Dichters an der Welt. [...] Allein der Realismus vermag im Sinne der modernen Anschauung die Kluft zwischen Leben und Kunst überbrücken. [...] Besonders ist es allein dem Realismus möglich, den Charakteren der Dichtung jene Selbständigkeit des Fühlens und handelns zu geben, die für die Moderne so ungemein charakteristisch ist.« (S. 275)
»Wo man von »Moderner Literatur« spricht, vernimmt man auch immer wieder das Wort »Übergangszeit«.[...] Die Phrase von der »Übergangszeit« ist ebenso verbraucht als nichtssagend. Wirklich bedeuten kann sie doch nur, daß in unserer modernen Dichtung die Persönlichkeit noch nicht erschienen ist, die das neue Weltverständnis, ein unendlich verfeinertes und doch tonstarkes Gefühlsleben und die daraus entstandenen neuen Kunstmittel in einem freien und starken Werk verkörpert wie dies in den Nachbarkünsten Musik, Malerei, Plastik mehrfach geschehen ist« (S. 277)
»Der Mangel an positivem Gehalt bildet aber die eigentliche Krankheit der modernen Dichtung; religiös ausgedrückt: ihr fehlt der Glaube. Und dieser Mangel tritt deshalb so stark zutage, weil die moderene Dichtung künstlerisch nach völliger Objektivität des Dargestellten strebt« (S. 278)

»Das Wort »modern« ist über seinen ursprünglichen Begriff hinausgewachsen, es hat sich auch von der Mode, mit der es verquickt wurde, wieder abgelöst. [...] es ist uns der Ausdruck geworden für die Empfindung von der Notwendigkeit des entwicklungsgeschichtlichen Fortschrittes. [...] Anders will er [der Moderne] alles machen, als es bisher war. [...] Er repräsentiert [...] die Bewegungstendenz gegenüber der Beharrungstendenz. Darum ist er ein Revolutionär auf dem Gebiete, auf das er sich wirft [...]. Aber mögen die Modernen in dem einen oder anderen Fall noch so irren [...], darum bleibt die »Moderne« doch das treibende Prinzip des Fortschritts.«

»Es gibt wieder mal etwas Neues, wir haben wieder mal eine neue Kunst, etwa die einundzwanzigste in diesem Jahrhundert, wenn man nur die Hauptströmungen rechnet. Um unseren ausgearbeiteten Sinnen zu imponieren, waren besondere Dinge nötig, es brauchte besondere Reize, um uns aus dem gewissen schlummerhaften Interesse wachzurütteln, mit dem wir seit zwanzig Jahren jede neue Richtung pflichtschuldig zu begrüßen gewohnt sind.
Die neue hat einen Kniff für sich, sie »kommt« nicht wie die andern alle, sie nötigt nicht zum mehr oder weniger versteckten Futurum, sie ist da, im Indikativ Präsens. Sie ist so schnell gekommen, daß man nicht mal ein Schlagwort für sie finden konnte, sie hat nicht mal einen Namen, und merkwürdigerweise ist sie doch überall bekannt. [...] Sie greift frech in die private Allheimlichkeit hinein, reißt die scheußliche aber gewohnte Rokokotapete von den Wänden, nimmt dem Familienvater den Renaissancestuhl unter dem Leibe fort, auf dem er seit 1870-71 friedlich gesessen, zieht ihm den persisch-slowakisch-slavonischen Teppich unter den Pantoffeln fort und gibt dafür neue Dinge, Dinge, die durchaus nicht zu den alten gemütlichen Erbstücken passen, die auf einmal alles auf den Kopf stellen, Ausgaben verlangen an Geld, Verstand, Zeit und wer weiß was, aber die auf einmal da sind wie selbstverständlich, da sein müssen. [...] Diese moderne dekorative Bewegung [...] ist eine Forderung der Zeit, wägbarer, rein materieller Verhältnisse, und die Notwendigkeit, aus der sie folgt, ist mit jener deutlicheren verwandt, die den Fortschritt der unserer Zeit eigentümlichen äußeren Wertfaktoren diktierte. Wie sich in all den Wissenschaften, deren Anwendungen für unser Leben praktischen Wert besitzt, von einem gegebenen Zustand aus Erweiterungen nach ganz bestimmten Richtungen hin folgern lassen, wie man bei der Erfindung der Lokomotive, der Photographie, des elektrischen Lichtes, bei der Entdeckung der Bacillen und der vielen wichtigen Theorien, die unsere Physik und Chemie in unserer Zeit bereichert haben, auf tausenderlei Umgestaltungen unseres öffentlichen und privaten Lebens schließen konnte, deren Vollzug nur eine Frage der Zeit war und ist, und die nicht nur die materielle Basis unserer Existenz, sondern auch alle wichtigen idealen Faktoren des Lebens modifizieren, so mußte sich auch schließlich einmal in der Kunst diese neue Zeit unmittelbar ausdrücken. Man sprach schon lange von einer modernen Kunst, seit einem Jahrhundert etwa, [...] moderne Maler brachten moderne Gegenstände auf die Leinwand, [...] andere faßten den Zeitbegriff tiefer, man fing an zu begreifen, daß es nicht im Stoff allein liegen konnte, sondern im Mittel; die Anschauungsform wurde modern, der Impressionismus zeigte, wodurch sich das Auge des heutigen auszeichnete, [...] aber das Prinzip blieb; man versuchte innerhalb des Rahmens alles was nur denkbar war, aber man rüttelte nicht an dem Rahmen.
Und jetzt kehrt sich die Sache um. Die Zeit [...] ist wach geworden. [...] Aber sie hält sich nicht mit Dissertationen auf, sie diskutiert nicht, sie ist ein brutales Monstrum, gewohnt, über Leichen zu schreiten.«

»Der Modernismus ist - und darin und nicht nur in der Weise des persönlichen Auftretens ein Protestantismus - der Versuch, die Religion mit der bürgerlichen Vernunft zu durchdringen, er ist wider die Vernunft gleichwie gegen das Religiöse gerichtet und an den Leiden wie Entzückungen seiner Märtyrer haftet etwas von jenem geistigen Geruch, der aus dem hingerissenen Theaterspiel des bürgerlichen Amateurs aufsteigt, ein Gemisch des Atems der Leidenschaft mit dem schwächlicher Zähne.«

»meine Herren, die Biographie des Ich ist nicht geschrieben, aber wo Sie sich in die Geschichte des Verhältnisses von Welt und ich vertiefen, sehen Sie mit großer Deutlichkeit diese Entwicklung vor sich: Die Erstarkung des Gefühls der Selbständigkeit des individuellen Subjekts. Das Ich sich zunächst durchaus in die äußere Welt hineinstellend, in seinem Bewußtsein anfangs kaum die Stellung der eigenen Person und der es umgebenden Lebewesen in seinem Weltbild unterscheidend, sammelt und konzentriert allmählich das subjektive Lebensgefühl zu der Bewußtheit von einer individuellen Existenz. [...]
Die Veränderung des Weltbildes, ausgehend von der durchaus pluralistischen Weltauffassung des Animismus: die Welt zerklüftet in unzählige objektive Einzelexistenzen, unter denen das Ich ein Einzelwesen wie jene, keine irgendwie ausgezeichnete Stellung einnimmt, über des Polytheismus allmählich sich verschärfende Trennung zwischen Göttern und Geistern: dem vielspältigen, unberechenbaren, launischen Wirken der Geister das irgendwie gesetzliche Walten der Götter gegenübergestellt, bis zu des Monotheismus Einheitsidee: die Welt von einem Willen, einem Gesetz geregelt, von einem Prinzip des Lebens beseelt, geht eine Entwicklung des Lebensgefühls des Menschen parallel, indem das Ich Zug für Zug jenen Gedanken des Subjektivismus in sich bildet, daß die ganze äußere Welt als ein inneres Erlebnis ihm gegeben ist.«


Katrin Bergmann
katrin.bergmann@excite.com

Aus: Toller, Ernst: Eine Jugend in Deutschland, 1998, Rowohlt Verlag
- "Ich beginne, an der Notwendigkeit einer Ordnung zu zweifeln, in der die einen sinnlos Geld verspielen, und die anderen Not leiden." "Der Tag ist mir verleidet, die Welt ist mir verleidet, die Werte, die ich gestern für ewig und unverrückbar hielt, sind fragwürdig geworden, ich selbst bin mir fragwürdig." (S. 35)
- "- Sie schreiben Gedichte? sagt der Major. - Zu Befehl, Herr Major. - Wohl moderne? Als Dichter Kampf der Romantik, als Soldat wünschen Sie sich einen kleinen romantischen Krieg. Prost. - Prost, Herr Major." (S. 47)
- "...die Sucht, den Gegner herabzusetzen, zu beschimpfen und zu besudeln, ist so widerwärtig, daß ich in einem Aufsatz, den ich dem 'Kunstwart' schicke, mich gegen diese Haltung, die uns selbst herabsetzt, wehre, der Redakteur schickt das Manuskript mit vielen gewundenen Phrasen zurück, man müsse auf die Volksstimmung Rücksicht nehmen. Dabei ist die Volksstimmung in der Heimat gezüchtet, die Frontsoldaten 'spucken darauf'." (S. 50)
- "Alle sind sie aus ihren Arbeitsstuben aufgescheucht worden, alle zweifeln sie an den Werten von gestern und heute. Nur die Jungen wollen Klarheit. Reif zur Vernichtung scheint ihnen diese Welt, sie suchen den Weg aus den schrecklichen Wirren der Zeit, die Tat des Herzens, das Chaos zu bannen, sie glauben an den unbedingten, unbestechlichen Geist, der seiner Verpflichtung lebt und der Wahrheit. Aber diese Männer, die sie als des Geistes Träger verehren, sind keine biblischen Prohpeten, die eine verirrte Welt mit mächtigem Wort richten und verdammen, die bereit wären, den Zorn der Könige und Tyrannen furchtlos zu ertragen, sind keine Rebellen und Aufrührer, sie flüchten sich in das Gespinst lebensferner Staatsromantik." (S. 57)
- "Junge Menschen, die wissen, daß die 'große Zeit' eine elend kleine Zeit ist, klagen den Krieg an und seine sinnlosen Opfer, haben nur einen Wunsch, im Wust der Lüge die Wahrheit zu erkennen." (S. 60)
- "Haben wir nicht (...) geschworen mit heiligem Ernst, daß der Krieg nur einen Sinn haben kann: den Aufbruch der Jugend? Dieses Europa muß umgepflügt werden von Grund auf, gelobten wir,..." (S. 60)
- "...Wir wissen, daß unsere Kultur von keiner fremden Macht erdrückt werden kann, wir verwerfen aber auch den Versuch, andere Völker mit unserer Kultur zu vergewaltigen. Unser Ziel ist nicht die Machterweiterung, sondern Organisation des Geistes." (S. 60)

Aus: v. Tschörtner, H.D. (Hrsg.): Gespräche und Interviews mit Gerhart Hauptmann (1894-1946), 1994
- Der Tag, Berlin, 16. Oktober 1917. Alfred Holzbock: Bei Gerhardt Hauptmann:
"Es wäre eine Frivolität, wenn all' das Große und all' das Traurige, das jetzt unser Inneres erfüllt, stofflich für die Bühne ausgenützt werden sollte, und es scheint, daß selbst unsere Possenautoren, vielleicht geführt von dem instinktiven richtigen Empfinden des Publikums, dieses erkennen, denn nicht nur die Kriegsposse ist entschwunden, man vermeidet es, selbst in einer Coupletstrophe heute das Tragischste und Gewaltigste aller Weltereignisse zu berühren. Ein Dichter hat es versucht, diese zu behandeln, von Unruh in seinem Drama "Das Geschlecht", aber hier ist alles Stoffliche vermieden, beleuchtetn das Symbol in antiker Tragik den Krieg. Wenn einst der Friede Einkehr gehalten hat, dann werden sich bei uns auch neue Kräfte regen, auch auf dem Gebiete der Bühnendichtung, aber mit neuen, vertieften Idealen und Empfindungen, die unsere Zeit uns gelehrt und offenbart hat. Aber gerade diese unserer Zeit entquellenden Vertiefungen der Ideale und Empfindungen lassen es ausgeschlossen erscheinen, daß das Stoffliche dieses Krieges von unseren Dramatikern brutal ausgenützt wird. Ich könnte es nicht, und darum habe ich mich in den Kriegsjahren unter anderem der Vollendung einer balladenartigen Bühnendichtung hingegeben, dich ich bereits vor zehn Jahren entworfen habe." (S. 68f.)

Aus: Hesse, Hermann: Gesammelte Briefe, Bd. 1, 1895-1921, 1978, Suhrkamp Frankfurt
- An Conrad Haußmann, 25.10.14
"Am Krieg plagt mich zur Zeit am meisten die Brutalität, mit der über alles Politische und Soldatische hinaus allgemeine Geisteswerte verachtet und bespuckt werden. Schon die mit wohlfeiler Bravour gegen Hodler gerittene Attacke war entbehrlich, aber der allgemeine Boykott gegen Kunst und Dichtung 'feindlicher' Völker ist eine arge Entgleisung und zeigt allzu deutlich, daß wir Fortgeschrittenen mit unsern Kultur- und Menschheitsgedanken noch eine schwächliche Minderzahl von Sonderlingen sind." (S. 247f.)
- An Gustav Gamper, 15.11.14
"...und habe etwas von der klargefegten Luft geatmet, die der Krieg geschaffen hat. Kein Zweifel, er tut den Seelen der Völker gut, er säubert und vereinfacht, und man muß das schätzen. Das Traurige ist nur, daß die Mehrzahl der Menschen nicht seelisch rein und gut bleiben kann, ohne durch solchen Gewaltstoß ihrer selbst wieder bewußt gemacht zu werden! Ein geradliniges Geistesleben - ich weiß als Beispiel eigentlich nur etwa den Buddhismus - müßte bestehen können, ohne solcher Aufrüttelungen zu bedürfen." (S. 251)
" Wie recht Sie haben mit dem, was Sie über Kunst und Naturwahrheit denken! Keiner von uns kann mehr geben als er hat, aber auch der Bescheidene, ja Arme ist eben genau insoweit wertvoll und edler Wirkung fähig, als sein innerstes Fühlen mit dem Lebenswillen der Natur einig ist. Alles davon Abweichende führt höchstens zu interessanten Mißgewächsen." (S. 251)
- An Volkmar Andreä, 26.12.14
"Die moralischen Werte des Krieges schätze ich im ganzen sehr hoch ein. Aus dem blöden Kapitalistenfrieden herausgerissen zu werden tat vielen gut, gerade auch Deutschland, und für einen echten Künstler, scheint mir, wird ein Volk von Männern wertvoller, das dem Tod gegenübergestanden hat und die Unmittelbarkeit und Frische des Lagerlebens kennt. Darüber hinaus verspreche ich mir wenig vom Krieg, und ein erneutes Hurrawesen wird ja wohl nicht ausbleiben. Daß aber wirkliche Kultur vernichtet wird, glaube ich nicht. Schöne einzelne Werke, ja, und wertvolle Personen genug - aber der Gedanke der Kultur selbst, der immer nur in einer geistigen Auswahl sein Leben hat, wird eher erstarken. Wenn auch nur bei einem Teil der mitkämpfenden Jugend wirklich das Lebensgefühl vertieft wird, der Sinn fürs Unzerstörbare gestärkt wird, die Freude am Läppischen abnimmt, so ist damit mehr gewonnen als mit einigen Städten und Domen verlorengehen kann. Das gefällt mir eigentlich an diesem phantastischen Krieg, daß er gar keinen 'Sinn' zu haben scheint, daß es nicht um irgendeine Wurst geht, sondern daß er die Erschütterung ist, von der ein Wechsel der Atmosphäre begleitet wird. Da unsre Atmosphäre einigermaßen faul war, kann der Wechsel immerhin Gutes bringen. Ob es teuer und etwa allzu teuer erkauft sei, dürfen nicht wir entscheiden. Die Natur verschwendet immer, ihr ist das einzelne Leben nichts wert. Für uns, die wir als Künstler oder Denker immer etwas abseits standen und mehr im Zeitlosen lebten, für uns können eigentlich nur materielle Schäden entstehen, und die sind immer zu tragen. Es gibt nur ein einziges Reich des Friedens und des ewig Sinnvollen, das steht unerschüttert im Herzen jedes Menschen, der Bach in der Tiefe erfaßt hat oder Plato oder den Faust...." (S. 255f.)
"Kultur, in unserem Sinn, ist vielleicht Glück. Aber sicher ist es nicht das, was bis zum ersten August in Europa offiziell für Glück galt, denn das war ungefähr gleichbedeutend mit Komfort. Die Menschen waren zu viel mit letzterem beschäftigt und hatten für die eigentliche Kultur zu wenig Zeit und Willen mehr, darum sind sie verrückt geworden und schlagen einander tot. Richtig daran ist nur, daß Sterben und Totschlagen nicht sinnloser ist als das, was vordem für Glück gegolten hatte." (S. 257)
- An Hans Sturzenegger, 25.12.16
"Man hört jetzt einige Barbaren behaupten, wir hätten vor dem Krieg in lauter Luxus und Gefühlsduselei gelebt und erst jetzt das wahre Leben und die rechten Gefühle wieder entdeckt. Das ist so dumm und verlogen wie möglich. Ich weiß heute aus Erfahrung: ein Gedicht machen und ein Lied singen, ist nicht nur hübscher, sondern auch unendlich viel gescheiter und wertvoller, als eine Schlacht gewinnen oder als eine Million fürs Rote Kreuz geben. Es ist nichts mit dieser 'organisierten' Welt der Politiker und Generäle, und von unsern Künstlerträumen ist der verrückteste immer noch mehr wert." (S. 341)
- Gruß aus Bern (an die Gefangenen), 2.8.1917
"Es war bei uns insofern eine Überschätzung der Dichter im Schwang, als man sie bei allerlei Gelegenheiten um ihre werte Meinung bat, ihre geschätzten Namen je und je in Tagesblättern meinte lesen zu müssen. Wie sehr dieser Höflichkeit auf der anderen Seite eine völlige Unkenntnis und Verachtung der Dichtung bei der Mehrzahl unserer Gebildeten entsprach, das ahnte jeder von uns ein wenig, doch gab es sich keiner recht zu. Statt in Dachkammern zu wohnen, Brotrinde zu essen und den Philistern auf den Kopf zu spucken, waren wir Dichter angenehme, fast gesellschaftsfähige Herren geworden, denen manches artige Wort zu Tagesfragen, mancher Witz, manche hübsche kleine Ironie gelang." (S. 354)
- Gruß aus Bern (an die Gefangenen)
"Und wenn ich unsere Dichtung und Geistigkeit von heute ansehe, so erschreckt ihr niedriger Stand mich keineswegs, denn ich weiß: die Besten schweigen. Sie sitzen auf verlorenen Inseln, von der Menge und vom Ton des Tages durch Entfernungen von Entwicklungsjahrhunderten getrennt. Sie fühlen, daß es keinen Wert hat, mitzuschreiben, mitzuschreien, oder auch nur sein Gut zu verteidigen. Sie folgen den Ereignissen mit dem Anteil, den ihre traurige Größe täglich fordert; aber die meisten von ihnen haben nicht mehr die Illusion, daß ein plötzlich politisch gewordener Dichter den öffentlichen Dingen wesentlich aufhelfen könne. Es ist nichts mit der Politisierung der Dichter. Im Gegenteil, wir sind begieriger als je nach fernsten Robinson-Inseln, wo unsere Träume blühen und unsere Liebe zu den Menschen sich ausleben kann, statt mißbraucht zu werden, statt auf anderen Gebieten halbe Arbeit zu tun, statt das kaum und halb Erlebte des Tages für den lieben Leser vorzuverdauen. Es ist nichts mit dem lieben Leser, es ist nichts mit der Rolle der Dichter als freundlich gewordener Plauderer oder als edel belehrender Onkel, das waren lauter Erfindungen des Publikums. Ein Dichter soll das Publikum nicht lieben, sondern die Menschheit (deren bester Teil seine Schriften nicht liest und dennoch braucht). Ein Dichter soll weder dem Vaterlande zulieb Journalist oder Parteimann werden, noch sich unter die Kriegslieferanten begeben, so verlockend das geschäftlich sein möge. Er soll diese Zeit miterleben, nicht sie noch unerlebt auszumünzen versuchen, und er ist sich und seinem Volk nicht schuldig, Dinge zu treiben, zu denen nichts ihn zwingt." (S. 355)
- An Romain Rolland, 4.8.1917
"Das Leben ist schwer geworden und schmeckt bitter. Wo immer möglich, wende ich mich vom Aktuellen ins Zeitlose, so ist die Poesie mir noch teurer geworden. Der Versuch, an politische Dinge Liebe zu wenden, ist mir mißglückt. Auch "Europa" ist mir kein Ideal - solange Menschen einander töten, unter Führung Europas, ist mir jede Einteilung der Menschen verdächtig. Ich glaube nicht an Europa, nur an die Menschheit, nur an das Reich der Seele auf Erden, an dem alle Völker teilhaben und dessen edelste Verkörperung wir Asien verdanken." (S. 358)
- An Richard Dehmel, 6.8.1917
"Aber ich sehe im Schwulst der Jüngsten, außer dem momentan Unerfreulichen, doch etwas Lebendiges. Es ist das Stammeln von Neurotikern, zum Teil. (...) Mir ist das, weil Zukunft drin liegt, lieber als jede glatte Kunst, die dem gangbaren Philister-Ausdruck sich anpaßt. Auch scheint mir das Chaos in der Kunst zu dem in Europa zu passen." (S. 359)
- An Otto Blümel, 8.1.1917
"Deine Meinung darüber, daß es in der Kunst wohl nicht nötig sei, "Neues zu sagen", teile ich. Trotzdem glaube ich an die ständige Wandlung des Ausdrucks und habe grade in unsrer Zeit stark das Gefühl von einem Ruck in der ganzen Geschichte. So wenig es mir imponiert, wenn irgendein junger Mann von heut auf morgen Futurist wird und den Kandinsky nachahmt, genauso sklavisch, wie er vorher die ältere Kunst imitiert hat - so wenig mir das imponiert, so empfinde ich doch in der Gesamtheit dieser Neuerungen, im ganzen Expressionismus der Malerei und Dichtung, eine sehr bedeutsame Wandlung. Mir geht das vielfach mit den Gedanken über den Krieg zusammen und mit meinen Phantasien über Neubildungen im Menschenleben, Empfinden und Denken, die mir sehr wichtig scheinen." (S. 363)


Clarissa Czöppan
clarissa.czoeppan@gmx.de

Arthur Schnitzler, Tagebuch 1913-1916. Wien: Verlag der Österreichischen Akademie der Wissemschaften, 1983.
S.129: In wenig Tagen hat sich das Bild der Welt völlig verändert. Man glaubt zu träumen! Alle sind rathlos.

Stefan Zweig, Tagebücher. Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag, 1984.
S. 84: Es ist Genialität oder Irrsinn - nie war die Welt so rasend. Und dabei die widerwärtige Weichlichkeit der Wiener Stadt, die Frauen prominieren in hellen Kleidern, cokketieren und lachen, nirgends Voraussicht, alles auf den Augenblick gestellt. Unruhen nur als Nervosität - bis zum Rathaus die Leute heute angestellt um Silber gegen Banknoten zu tauschen, jetzt schon dieses grenzenlos Mißtrauen gegen uns selbst.
S. 101: Eine stumpfe Gehorsamkeit, mehr haben sie jetzt nicht: in diesen Arbeitern und Bauern ist das Schöne, die Glorie weg, das was sie beglückte, aber die Zucht ist ungebrochen.
S. 173: Die Stimmung bedrückt, aber gar nicht schwül. Statt Erwartung -Lähmung. Wären wir nur weiter - man hoffte am Ende zu sein und jetzt beginnt es.
S. 210: Seltsam sind diese Begegnungen. Und seltsam - beschämend für meine Voraussicht - daß man noch immer heiter Licht und Luft genießt, daß alles hier Vergnügen atmet, daß überhaupt nach einem Jahr Wahnsinn diese Welt noch in ihren Angeln ist.
S. 219: Mein Kopf ist ausgeronnen, die Arbeit widert mich an, weil ich ihre Notwendigkeit nicht einsehe. Das Frühere hatte wenigstens einen Schein von Sinn, das Jetzige ist öde und nur zu privatem Zweck. Und es widert mich so an, daß ich für mich selbst nichts machen kann.
S. 222: Nichts. Öde. Leere. Gleichgültigkeit. Ich schäme mich ihrer nicht, sie ist ein Massenphänomen geworden wie früher die Begeisterung.
S.268: Langes Gespräch über die jüngste Kunst. Ihn frappiert die Gleichzeitigkeit des Auftretens (er vergleicht sie mit einer Naturerscheinung). Ich erkläre sie ihm als Culturerscheinung, als Geschwindigkeitserscheinung der modernen Übermittlung. Wie ja alle Moden jetzt sich rapider verbreiten …
S. 311: Die Zeit war tot, nun wird sie neuerdings grauenhaft lebedig. Ich war müde des sinnlosen, nun findet sich allmählich wieder ein Sinn der Zeit, oder besser der immer in dieser Krise verborgene Sinn beginnt sich zu zeigen.
ebd.: Man muß die Kunst lernen, dumpf zu leben, sich selbst und nicht der Zeit, die ja Lebensvernichtung ist, Hemmung und nicht Befreiung.
S. 330: Man ist lahm, ausgehofft, ausgeängstigt. Man kann nicht mehr…
ebd.: Man ist ganz nervös von diesen ewigen Angelegenheiten der Welt, die Neuigkeiten stürzen furchtbar vehement übereinander. Es sind unsere intensivsten Stunden: das Schicksal Europas formt sich um.

Arthur Schnitzler, Briefe 1913-1931. Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag, 1984.
S.44: Nun findet man sich in diese phantastisch-grauenhaft gewordene Welt so gut es eben geht; daß jedermann durch ganz persönlichen Anteil oder durch eine noch so bescheidene Tätigkeit irgendwie in diese wirbelnde Bewegung mit oder ohne Nutzen für das Ganze hineingezogen wird, ist selbstverständlich;

Thomas Mann und Heinrich Mann, Briefwechsel 1900-1949. Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag, 1995.
S. 170: Ich bin noch immer wie im Traum, - und doch muß man sich jetzt wohl schämen, es nicht für möglich gehalten und nicht gesehen zu haben, daß die Katastrophe kommen mußte. Welche Heimsuchung! Wie wird Europa aussehen, inner mich und aeußerlich, wenn sie vorüber ist? Ich persönlich habe mich auf eine vollständige Veränderung materieller Grundlagen meines Lebens vorzubereiten. Ich werde, wenn der Krieg lange dauert, mit ziemlicher Bestimmung das sein, was man >>ruiniert<< nennt. In Gottes Namen! Was will das besagen gegen die Umwälzungen, namentlich die seelischen, die solche Eereignisse im Großen zur Folgen haben müssen ! Muß man nicht dankbar sein für das vollkommen Unerwartete, so große Dinge erleben zu dürfen? Mein Hauptgefühl ist eine ungeheure Neugier - und, ich gestehe es, die tiefste Sympatie für dieses verhaßte, schicksals- und rätselvolle Deutschland, das, wenn es >>Civilisation<< bisher nicht unbedingt für das höchste Gut hielt, sich jedenfalls anschickt, den verworfenen Polizeistaat der Welt zu zerschlagen.
S. 176: Schmerz? Es geht. Man wird hart und stumpf. … Ich habe dies Leben nicht gemacht. Ich verabscheue es. Man muß zu Ende leben so gut es geht.
S. 178: Selbstgerechtigkeit? O nein - sondern weit eher das Gemeinschaftsgefühl mit denen, die auch, gleich mir, es wissen, wie viel wir alle, die Kunst und Geistesart unserer Generation, es verschuldet haben, dass die Katastrophe kommen konnte.

Rainer Maria Rilke, Briefe. Wiesbaden: Insel Verlag, 1950.
S. 470: Allmählich fang ich an, mein Zurückgebliebensein hinter so viel Aufbruch verwirrt und kränkend zu empfinden: die ersten Tage trieb mein Geist in der großen allgemeinen Strömung, konnte auf seine Art mit; dann besann ich mich, als unsäglich Einzelner, auf mich selbst, auf mein altes, mein bisheriges Herz (das ich nicht aufgeben kann), und nun hab ichs sehr schwer über diesen Bogen, einzeln, zum ungeheuren Allgemeinen die gültige, womöglich irgendwie furchtbare Stellung zu gewinnen. Glücklich die, die drinnen sind, die´s hinreißt, die´s übertönt.
S.477: Die Vergangenheit bleibt zurück, die Zukunft zögert, die Gegenwart ist ohne Boden, aber die Herzen, sollten die nicht des Schwebes Kräfte besitzen und sich erhalten im großen Gewölk? (…) Mehr ist jetzt auch nicht zu leisten, als daß die Seele übersteht, und die Not und das Unheil sind vielleicht gar nicht vorhandener als vorher, nur greifbarer, tätiger, sichtlicher. Denn die Not, in der die Menschheit täglich lebt seit Anbeginn, ist ja eigentlich durch keine Umstände zu steigern. Wohl aber sind Steigerungen der Einsicht da in des Menschen unsägliche Not und vielleicht führt das alles dazu; soviel Untergang - -als suchtene neue Aufgänge - Abstand und Raum für den Ablauf.
S. 482: es ist keiner, der die Luft, die durch ihn hindurchstreicht, zum Tönen brächte, nicht einmal zum Klagen,- es ist eine Stille angehaltener, unterbrochener Herzen, ich bin gewiß, es liebt keiner in dieser Zeit, soviel ein oder das andere Herz jetzt auch leisten mag, es wirkt aus irgendwelchen allgemeinen Vorräten menschlicher Güte, Wärme, Willigkeit und Hingabe, es gibt nicht das Seine, sondern hinter jedem Handeln sind uralte Vorratskammern der Menschennot aufgetan, auch Ihr draußen handelt und ringt aus solchen Kräften, die aufgespeichert waren in irgendwelchen Scheunen der unwillkürlichen Gemeinsamkeit. Mich mutet es an, als ob unser Herz in jedem nur ein weitergebendes wäre, beschränkt darauf, den Vorrat anzustaunen, der durch seine Hände geht.
S. 485: das ungeheure Unheil schafft eine neue Skala des Empfindens, da es so tief herunterreicht, steigt es auch weiter an, ist es auch mehr, was man fühlt?
ebd.: Wunderbar freilich ist die Sichtbarkeit des Ertragens, Hinnehmens, Leistens so großer Not auf allen Seiten, bei Allen. Größe kommt an den Tag, Standhaftigkeit, Stärke, ein zum-Lebenstehen quand memê --, aber wieviel in solchem Verhalten ist Verbissenheit, ist Verzweiflung, ist (schon schon) Gewohnheit? Und kaum, daß so Großes sich zeigt und bewährt, kann das irgend Schmerz mindern, darüber, daß solches Wirrsal,solches Nicht-aus-und-ein-wissen, die ganze trübe Menschenmache dieses heraufgereizten Schicksals. Daß genau diese Nichts-als Heillosigkeit nötig war, um Beweise von Herzhaftigkeit, Hingabe und Großheit zu erzwingen? Während wir, die Künste, das Theater, in ebendenselben Menschen nichts hervorriefen, nichts zum Aufstieg brachten, keinen zu verwandeln vermochten. Was ist anderes unser Metier als Anlässe zur Veränderung rein groß und frei hinzustellen,- haben wir das so schlecht, so halb, so wenig überzeugt und überzeugend getan? Das ist Frage, das ist Schmerz seit bald einem Jahr und Aufgabe, daß mans gewaltiger täte, unerbittlicher. Wie?
S. 492: …aber innerlich ists ein Abgrund, man lebt am Rande, und unten liegen, vielleicht zerschlagen, wer weiß es, die Dinge des früheren Lebens. Wars das? Sag ich mir hundert Mal, wars das, was die letzten Jahre als ungeheurer Druck über uns lag, diese furchtbare Zukunft, die nun unsere grausame Gegenwart ausmacht?
ebd.: Was auch kommt, das Ärgste ist, daß eine gewisse Unschuld des Lebens, in der wir doch aufgewachsen sind, für keinen von uns wieder da sein wird. Die Jahre vor uns, so viele es sind, was wirds sein, als, mit zitternden Knien, ein Abstieg von diesem Schmerzgebirg, auf das man uns noch immer weiter hinaufschleppt…
S. 494: Wie viel Vertuschung in den Städten, wieviel schlechteste Zerstreuungen, welche Heuchelei im unentstellten Hinleben, unterstützt durch gewinnsüchtige Literatur und erbärmliche Theater und geschmeichelt von der widerwärtigen Presse, die sicher an diesem Kriege viel Schuld hat und noch mehr Schuld daran, daß Zweideutigkeit und Lüge und Fälschung das ungeheure Geschehen zu einer Krankheit machen, wo es doch hätte eine reine Raserei sein dürfen.
S. 510: Dies, wie ist es möglich zu leben, wenn doch die Elemente dieses Lebens uns völlig unfaßlich sind? Wenn wir immerfort im Lieben unzulänglich, im Entschließen unsicher und dem Tode gegenüber unfähig sind, wie ist es möglich dazusein?
S. 537 - 538: Diese Zustände des Erstarrens können ja leicht Verwandlungen sein, innere Umbauten, auf die ein erneutes Dastehen und Sich-Fülen folgt, wenn der Umbau geschehen ist, vielleicht ist ers nun, das wäre möglich, - aber was soll ein so Vollendetes mit sich anfangen, wenn es keine
Umgebungen vorfindet, nichts als Stürze und Untergänge?
S. 538: Und doch ist es jetzt so leicht, sich zu ihr zu stellen, da man weniger als je zu den >>Oberen<< sich zählen lassen möchte, viel mehr im Leiden unter den Untersten steht, ärmer, eingeschränkter als sie, von womöglich noch eindringlicherem Unrecht heimgesucht.
S. 541: Das Bewußtsein der jetzigen Welt, indem es sich immer wieder in meinem Inneren bildet, sprengt alle meine Verältnisse. Es muß - da so viele das Unmöglichste aushalten - es muß wohl Schwäche sein, daß ich nur noch das Ende dieser entsetzlich ratlosen Menschenmache herbeisehne und jenseits davon, ehe alles verlorengeht, einen weit gemeinsamen, gutgewillten Anfang. An dem erst wird mein Herz wieder beteiligt sein. Bis dahin gehöre ich zu den Widerlegten, vom wirrsten Gegenteil Verschütteten und habe keinen Anschluß als da und dort an die aufgelehntesten Worte. Was hülfe es, daß es die menschlichsten sind.
S. 549: Sie schreiben, das Weltbild, das äußere sowohl wie das innere, habe sich von Grund auf geändert. Was ich wahrnehme, mein lieber Freund, ist immernoch der heillose Abbruch des früheren, an dem ich auf meine Art um so tiefer beteiligt war, als es für mich in die offenste Zukunft überging. Je länger die wirrseelige Unterbrechung dauert, desto mehr sehe ich meine Aufgabe darin, das Gewesene fortzusetzen in seiner Unbeirrtheit und unerschüpflichem Erinnern; mögen die Bedingungen aus denen ich mich gebildet habe , immerhin abgelaufen sein, ich meine ihren Auftrag so zeitlos verstanden zu haben, daß ich ihn auch jetzt noch als unverbrüchlich und endgültig betrachten kann.
S. 557: Ich sehne mich nach Menschen, durch die das Vergangene in seinen großen Linien an uns angeschlossen und auf uns bezogen bleibt; denn wie sehr wird gerade jetzt die Zukunft, je kühner und gewagter man sich sie denkt, doch auch wieder davon abhängig sein, ob sie in die Richtung der tiefsten Traditionen falle und sich aus ihnen (…) bewege und auswerfe.


Helga Gandlgruber
h.gandlgruber@t-online.de

Moderne-Definitionen

"Das Wort »modern« ist über seinen ursprünglichen Begriff hinausgewachsen, es hat sich auch von dem der Mode, mit dem es verquickt wurde, wieder losgelöst. [...] Es ist uns der Ausdruck geworden für die Empfindung von der Notwendigkeit der entwick-lungsgeschichtlichen Fortschrittes. [...]. Er [d.h. der moderne Mensch, H.G.] repräsentiert das eine der zwei welterhaltenden Prinzipien: die Bewegungstendenz gegenüber der Beharrungstendenz." Max Burckhard, 1899
Quelle: Burckhard, Max: Modern. In: Die Zeit. Wiener Wochenzeitschrift für Politik, Volkswirtschaft, Wissenschaft und Kunst, 20/1899, S. 185f.

"Daß aus dem Leide das Heil kommen wird und die Gnade aus der Verzweiflung, daß es tagen wird nach dieser entsetzlichen Finsternis und daß die Kunst einkehren wird bei den Menschen - an diese Auferstehung, glorreich und selig, das ist der Glaube der Moderne." Hermann Bahr, 1890
Quelle: Bahr, Hermann: Die Moderne. In: Moderne Dichtung. Monatsschrift für Literatur und Kritik, 1/1890, S. 13-15.

"Alle Erscheinungen der Gegenwart deuten hin auf den Niedergang der Antike, den Anfang der Moderne. Schon ist es ein Tagesklatsch geworden, das die Masse sich lockert, nach Individuation ringt, daß sie sich loslöst von der Religion und aller überkommener Autorität. [...] Ich sehe eine Zeit kommen, die keine Tempel mehr baut und keine Ge-fängnisse, die nur noch Werkzeuge fertigt, aber keine Waffen. Kampf wird noch sein, aber nur ein Wettkampf in Forschen und Erfinden, in Menschheitsdienst und Schöpfung. [...] Die Aufgabe der Antike war es, das Menschliche von den Schlacken der Tierheit zu befreien; das Ziel der Moderne ist es, das Menschliche zum Göttlichen herauf-zubilden. [...] Mit vollem Bewußtsein die Fortentwicklung der Menschheit anzustreben, das wird zum Wesen der Moderne gehören." Heinrich Hart, 1890
Quelle: Hart, Heinrich: Die Moderne. Eine vorläufige Betrachtung. In: Die Moderne. Halbmonatsschrift für Kunst, Literatur, Wissenschaft und soziales Leben, 1/1891, S. 1-4.

"Ungemein charakteristisch für den modernen Menschen ist sein Bedürfnis nach Klarheit und Wahrheit in den persönlichen Angelegenheiten des Lebens. [...] Jedenfalls liegt das Moderne nicht im Stoffe. Es liegt in der neuen seelischen Auffassung, die der Dichter den gewöhnlichen oder seltenen Erscheinungen des Tages gegenüber bekundet. Es beruht in einer unendlich gesteigerten seelischen Anteilnahme des Dichters an der Welt." Hans Landsberg, 1904
Landsberg, Hans: Die moderne Literatur. Berlin 1904, S. 2-38.


Svenja Gerl
svenja.gerl@stud.uni-muenchen.de

Definition Moderne

Der Begriff "Moderne" wurde von Eugen Wolff im Jahre 1886 für die naturalistische Literaturströmung des Jungen Deutschland geprägt. In dem Berliner Literaturverein "Durch" (E. Wolff, A. Holz, J. Schlaf. G. Hauptmann u.a.) ist die Moderne damals erstmals substantiviert worden als Programm für eine Literatur des sozialen und weltanschaulichen Kampfes um gesellschaftliche Neugestaltung. Später wurde der Begriff von Hermann Bahr ("Zur Kritik der Moderne", 1890) als Gegenbewegung zum, wie er betont, "revolutionären und sozialistischen" Naturalismus für alle neueren, vor allem anti-naturalistischen Strömungen, also für Impressionismus, Symbolismus, Neuromantik und Décadence, verwendet. In diesem Sinne gilt der Naturalismus heute als die erste Phase der Moderne, seine ästhetisierenden Gegenströmungen Symbolismus und Impressionismus als die zweite Phase.1 Zu den Autoren der Moderne gehören z.B. Arthur Schnitzler, Hugo von Hofmannsthal Gerhart Hauptmann, Frank Wedekind, Thomas Mann, Heinrich Mann, Franz Kafka, Rainer Maria Rilke, Hermann Hesse, Robert Musil und Stefan Zweig, deren Werke beeinflußt wurden durch die Geschehnisse des Ersten Weltkrieges, also in einer Zeit der Bedrohung und Auflösung der deutschen und europäischen Kultur verfaßt worden sind. Die Literatur in dieser Zeit ist daher auch, im Gegensatz zu den deterministischen, atheistischen und materialistischen Ansätzen des Realismus und Naturalismus, insbesondere gekennzeichnet von nervöser Dekadenz, Kraftlosigkeit, Verzicht und Todesmütigkeit, Verfall und Zweifel am Fortschritt und übersättigter Kulturmüdigkeit.2 Letzteres schlägt sich beispielsweise in Hugo von Hofmannsthals Griechendramen, in Schnitzlers "Hirtenflöte" und in Th. Manns "Der Tod in Venedig" nieder. Besonders die Werke Gerhart Hauptmanns zeigen die vielfältigen Ausprägungsformen der Moderne, da sich hier deterministische, materialistische, vitalistische, symbolistische, nihilistische, aktivistische, neuromantische Tendenzen voneinander abheben oder sich verschränken.3
Das Bild des Verwaltungschaos und der verwirrenden Erkenntnissituationen ist ein Bild der Moderne, das sich insbesondere bei Franz Kafka wiederfindet. Alle Informationsvermittlungen und Erkenntnisvorstöße verlaufen sich, so die Erzählform Kafkas, ins Labyrinthische, Chaotische. Sie kommen nicht zum Ziel, sondern verstricken den Sucher selbst in ein "lächerliches Gewirre", welches unter Umständen aber doch "über die Existenz des Menschen entscheidet" Die fragmentarische Offenheit seiner Werke entspricht der Unabgeschlossenheit des Erkenntnisprozesses der Moderne, die herausgefallen ist aus der traditionellen Metaphysik und Theologie. Ironisch spricht Kafka die Erkenntnisproblematik beispielsweise in den "Forschungen eines Hundes" aus: "Was hat die Forschung, von unseren Urvätern angefangen, entscheidend Wesentliches denn hinzuzufügen? Einzelheiten, Einzelheiten und wie unsicher ist alles:"
4. Die hier sichtbare Erkenntniskritik Kafkas ist nicht nur Kritik des traditionellen Wahrheitsbegriffs, sondern wesentlich auch Kritik der modernen Erkenntnistheorie und ihrer Auflösung von Wirklichkeit in Deutungen. 5
Kennzeichnend für die Moderne des 20. Jh. ist außerdem das Bewußtsein, daß "Sprache nicht mehr tragfähige Brücke zu den Phänomenen ist oder in ihren Elementen soviel traditionell Mythologisches enthält, daß sie zerschlagen werden muß"
6.
Die Vorstellung einer sprachskeptischen Moderne wird besonders in Hofmannsthals Brief des Lord Chandos deutlich, der die moderne Gebrochenheit des Bewußtseins und die Problematik der Entfremdung von der Welt der Dinge beschreibt, oder bei Robert Musil, der die "bekannte Zusammenhanglosigkeit der Einzelfälle" beklagt.
7

Anmerkungen:
1 Vgl. hierzu Brockhaus; von Wilpert, Gero: Sachwörterbuch der Literatur. Stuttgart, 1989 und Schreiber, Fricke: Geschichte der deutschen Literatur. Paderborn, 1974. S. 262.
2 Vgl. hierzu: Fiedler, Leonhard: Deutsche Literaturgeschichte. Bamberg, 1963. 10.Aufl. S. 312.
3 Vgl. hierzu: Krywalski, Dieter: Handlexikon zur Literaturwissenschaft. S. 333.
4 Vietta, Silvio: Die literarische Moderne. S. 8.
5 Vietta, Silvio: Die literarische Moderne. S. 132.
6 Ebd.
7 Vietta, Silvio: Die literarische Moderne. S. 8.


Marijana Gersic

Die literarische und künstlerische Moderne und der Erste Weltkrieg

Der Erste Weltkrieg zerstörte in vier Jahren das gesamte politische und soziale Gefüge des alten Europa. Viele, auch unter den künstlerisch Schaffenden, hatten eine militärische Entladung der nationalen und gesellschaftlichen Spannungen vorausgeahnt, davor gewarnt oder darauf gehofft. Insgesamt aber traf die Katastrophe die Menschen unvorbereitet und stürzte mehr um, als irgend jemand hätte vorhersagen können.
Schon vor der Jahrhundertwende hatten auf allen künstlerischen Gebieten neue, revolutionäre Strömungen eingesetzt. Die Kunstrichtungen, die für das 20.Jahrhundert prägend werden sollten, waren schon vor Beginn des Kriegs angelegt oder hatten zum Teil sogar schon ihre Höhepunkte gesetzt. Der Naturalismus, der die Lebensbedingungen der einfachen Menschen thematisierte (Gerhart Hauptmann "Die Weber", "Die Ratten", Arno Holz/Johannes Schlaf u.a.) stellte keine Herausforderung mehr dar, Impressionismus und Symbolismus gehören noch zu den Ausklängen des Fin de Siècle. Der Expressionismus brach als gewaltige Neuerung um das Jahr 1910 in Malerei und Dichtung ein. So wie Chagall Häuser und Menschen auf den Kopf stellte oder Franz Marc Pferde in blau sah, suchten Dichter der Sprache, ja dem einzelnen Wort, neue Einsichten und Wirkungen abzugewinnen. Die Sprachzertrümmerung richtete sich gegen das herrschende Weltbild einer scheinbar wohl geregelten bürgerlichen Ordnung, die von den Künstlern als geistig flach und sozial ungerecht erlebt wurde, und gegen ein affirmatives Kunstverständnis, das nicht an den inneren Stillstand der Gesellschaft rührte.
Die meisten expressionistischen Künstler/ innen (Else Lasker-Schüler, August Stramm, Trakl, Stadler, der junge Gottfried Benn, Brecht , Döblin u.a) waren (anfangs) nicht im engeren Sinn politisch. Sie suchten mit künstlerischen Mitteln ihre Gegnerschaft zu den etablierten Wertsetzungen auszudrücken und damit die Welt zu verändern. Anarchisches, Abgründiges, Erotisches (hier besonders Wedekind) wurde durch Kunst gewissermaßen eingeschmuggelt, nicht selten im Kampf mit der Zensur. Die Expressionisten - im weitesten Sinn verstanden - suchten "das Wesentliche". Doch auch humanistische, sozialistische, pazifistische, freiheitliche Ideen waren subversiv.
Manche Autoren suchten - mehr oder weniger verschlüsselt - auf konkrete politische Veränderungen hinzuwirken. Hier ist in erster Linie Heinrich Mann zu nennen, der darin explizit den Beruf des Schriftstellers sah. Carl Sternheim und viele andere arbeiteten mit den Mitteln der Satire ("Simplizissimus"), des Kabaretts, des Spotts.
Wie wirkte sich nun der Ausbruch des Krieges auf die künstlerischen und politischen Programme und auf die Schriftsteller und Dichter selbst aus?
Es ist auf den ersten Blick verwirrend, Namen wie Ernst Toller, Richard Dehmel, Döblin, Kokoschka oder Georg Trakl unter den anfangs begeisterten Kriegsfreiwilligen zu finden. Doch fast alle waren sehr jung, und der nationale Taumel hatte einen starken Sog. Manche erwarteten sogar von einem Krieg etwas wie ein reinigendes Gewitter. Manche stimmten nur zum Selbstschutz einige patriotische Töne an, wurden aber trotzdem - weil ihr bisheriges Wirken schon ihre eigentliche aufmüpfige Gesinnung verraten hatte - von den Nationalisten verbal scharf angegriffen, Stücke wurden abgesetzt, die "Modernen" waren verdächtig.
Auch wo die kurzfristige Kriegsbegeisterung oder -befürwortung echt war, wich sie schnell dem Entsetzen über die Realität. Toller etwa schrieb 1917 mitten im Krieg sein erstes Stück "Die Wandlung" und gründete mit anderen einen Kampfbund für Völkerfrieden und zur Abschaffung der Armut. August Stramm, Franz Marc, August Macke fielen an der Front. Trakl und Kokoschka konnten ihre Kriegserlebnisse nicht verarbeiten und griffen zu Rauschmitteln - Max Beckmann erlitt 1917 einen Nervenzusammenbruch. Der Krieg griff tief in die Psyche der Künstler ein, auch bei denjenigen, die nicht eingezogen wurden.
Die Produktion erlahmt: Während der Kriegszeit entstehen auffallend wenige Werke. Doch es ist festzuhalten, daß weder diese Arbeiten noch die nach dem Kriegsende wieder in reichem Maß geschaffenen, wesentliche Veränderungen der Formsprache und der geistigen Haltung aufweisen. Der Krieg bildet offenbar nicht die Schnittstelle, die die künstlerische und literarische Entwicklung markiert. Da er in der politischen Geschichte Europas ein so wichtiges Ereignis darstellt, neigen in der Rückschau viele, sogar manche Kulturhistoriker/ innen, dazu, seine Bedeutung für die Entstehung der "modernen Kunst" und Literatur zu überschätzen. Allenfalls trifft dies auf die 1916 - im neutralen Zürich! - geborene Dada-Bewegung zu, für die er konstitutiv war. Aber eben nicht aus eigenem Erleben, sondern aus einer geistigen Reaktion auf die Absurdität und Lächerlichkeit des Weltgeschehens.
Bei genauerem Studium von Tagebüchern, Briefen und anderen privaten Zeugnissen ließen sich sicherlich subtile Einflüsse des Weltkriegs auf das Schaffen der einzelnen Autoren nachweisen. Um feine Schattierungen dieser Art aufzuspüren, ist eine gründliche Betrachtung dieser Quellen unerläßlich. Aber die bedeutenden und berühmten Werke der Künstler/ innen des ersten Jahrhundertviertels zeigen das Kriegserlebnis nicht als Bruch mit den vorher gehegten Ideen und den vorher geübten formalen Ausdrucksformen. Alle Weichen waren schon mitten in der behäbigen Zeit der Vorkriegsära gestellt.


Andrea Hambauer
andrea.hambauer@stud.uni-muenchen.de

1. Georg Simmel: Deutschlands innere Wandlung. Rede, gehalten in Straßburg, November 1914, in: Der Krieg und die geistigen Entscheidungen, München und Leipzig 1917, S. 25f.:

"Seit einer Reihe von Jahren gehen die geistigen Bewegungen in Deutschland, wie aus der Ferne freilich, fragmentarisch, mehr oder weniger bewusst, auf das Ideal eines neuen Menschen zu. Die Schicht, aus der dies Gedankengebilde sich entwickelt, beginnt, wenn ich richtig beobachtet habe, etwa vom Jahre 1880 an zusammenzuschießen. Außerhalb ihrer wohnt, wer um diese Zeit herum seine geistige Entwicklung schon abgeschlossen hatte; wer aber dann noch bildsam war, auf den haben Nietzsche und der Sozialismus gewirkt, der Naturalismus und das neue Verständnis der Romantik, Richard Wagner und die Technik der modernen Arbeit, das Wiederaufleben von Metaphysik und Religiosität und die spezifisch moderne, aus Veräußerlichung und Vergeistigung zusammengewebte Ästhetik der Lebensgestaltung. Gleichviel, wie annehmend oder ablehnend der Einzelne sich zu jedem dieser beiden Elemente gestellt hat: irgendwie hat er sich zu jedem gestellt, hat es zu einem positiven oder negativen Faktor seiner inneren Struktur werden lassen. Er ist der moderne Mensch geworden - freilich noch nicht der neue Mensch, von dem jetzt unsere Hoffnung spricht; aber er hilft dessen Fruchtboden bilden, aus solchen Menschen ist jene Schicht zusammengewachsen, derer wirr hin und her schießende Bestrebungen und Gläubigkeiten, Bejahungen und Verneinungen nun nicht mehr - und das ist das ganz Entscheidende - ein einzelnes Haben oder Sein, sondern die Idee eines neuen ganzen Menschen gemein haben. Das ist nicht ein einzelner in concreto möglicher Mensch (...) sondern eben eine übersinguläre Idee, wie der ‚natürliche Mensch' Rousseaus es war, der (...) plötzlich einen neuen Begriff realisierender war, und in dem (...) alle möglichen Sehnsüchte und Wertungen des 18. Jahrhunderts zusammenschossen."

2. Kurt Tucholsky. Werke - Briefe - Materialien. Gesammelte Werke im Volltext. Ausgewählte Briefe und Q-Tagebücher. rororro-Monographie von Michael Hepp. Bibliographie. Bilddokumente. Digitale Bibliothek Band 15, Berlin 1999

"Aber eine gewisse mittelalterliche apothekerhafte Schwerfälligkeit hat bis jetzt zu verhindern vermocht, daß alle die Einrichtungen eines modernen Kaufmannsbetriebes die Arbeit der Buchhändler erleichtern; ihre Abrechnungen sind kompliziert, unerhört verwickelt, und nicht einmal die Prozentberechnung ist überall durchgeführt."
[Werke und Briefe: 1914, Der deutsche Buchhändler, S. 43. Digitale Bibliothek Band 15: Tucholsky, S. 665 (vgl. Tucholsky-GW Bd. 1, S. 161) (c) Rowohlt Verlag]

"Ein durch Klugheit, Gleichmut, Selbstbewußtsein erhöhtes Menschentum, ein wesentlicher und wertvoller Teil der modernen Kultur«, sagt der Prospekt. Nun, wollen sehen."
[Werke und Briefe: 1914, Tulla Durieux, S. 75. Digitale Bibliothek Band 15: Tucholsky, S. 697 (vgl. Tucholsky-GW Bd. 1, S. 174) (c) Rowohlt Verlag]

"Na . . . Maul . . . « sagt der Bürger. »Wir waren gestern erschreckt, daß die so moderne Marineverwaltung das Anbinden der Hände beim strengen Arrest für eine ganz natürliche Strafe erklärte. Es müßte . . . "
[Werke und Briefe: 1914, Vormärz, S. 124. Digitale Bibliothek Band 15: Tucholsky, S. 746 (vgl. Tucholsky-GW Bd. 1, S. 194) (c) Rowohlt Verlag]

"Auch daß einmal ein ganzes Volk in berechtigtem Haß gegen ein andres aufflammt und zu den Waffen greift, ist richtig und erklärlich, aber man muß nicht vergessen, daß moderne Kriege wesentlich auf kapitalistischen Gründen beruhen und daß alles andre ein wohl angelegter Schwindel ist: die Volksbegeisterung und die flatternden Fahnen und die Orden und alles das."
[Werke und Briefe: 1914, Der Sadist der Landwehr, S. 226. Digitale Bibliothek Band 15: Tucholsky, S. 848 (vgl. Tucholsky-GW Bd. 1, S. 239) (c) Rowohlt Verlag]

"Heute . . . ! Heute sind wir so weit gekommen, daß der Berliner, der abends zu Hause bleibt, nächstens noch polizeilich bestraft wird. Man geht aus. Und die Psychologie der Ausgeher ist merkwürdig und unverständlich, wie ihr ganzes Gehaben. Das Café, das immer phantastischere Namen bekommt - wir haben schon ein Luxus-Café -, wird von diesen Menschen wirklich als ein sympathischer Kulturträger der Moderne empfunden. Nicht wahr, da ist ein rauchiger Raum, mehr oder weniger bunt, denn auch das gute Kunstgewerbe hat sich der Cafés angenommen, und meist sind sie hübsch und aufdringlich eingerichtet, dicke Rauchschwaden ziehen durch die Luft, hinten schnarrt und quiekt eine Kapelle, es riecht nach Bier, Kaffee, Speisen und vielen menschlichen Parfums. Ich habe eine Menge Cafés gesehen, solche mit Brillantenschiebern und Kokotten und einem biederen Künstlerpublikum und solche mit ausschweifenden Bourgeois und mit Ladenjünglingen und ihren Verhältnissen . . ."
[Werke und Briefe: 1914, Café-Kultur, S. 19. Digitale Bibliothek Band 15: Tucholsky, S. 9176 (vgl. Tucholsky-DT, S. 88) (c) Rowohlt Verlag]

"An Hans Erich Blaich

ORION / EIN JAHRKREIS IN BRIEFEN

Bei Wedekind tritt einmal ein Mann auf, der moderne Zeitschriften durchsieht. Er stöbert und blättert in den Papieren: ›Der Tag‹, ruft er verzweifelt aus, ›Die Woche‹, ›Das Jahr‹, ›Das Jahrhundert‹, ›Das Jahrtausend‹. - Ists nicht beinah wirklich so? Werden wir nicht überschwemmt mit Zeitschriften, und haben wir die allzugleichen nicht allmählich satt? Immer wieder dasselbe Bild: unter dem Titelkopf ein kluger Leitartikel, dann ein Stück Roman oder eine Novelle, ein paar Essays; hinten die Miszellen, Kleinigkeiten, Bücherbesprechungen . . . "
[Werke und Briefe: 1914, An Hans Erich Blaich, S. 3. Digitale Bibliothek Band 15: Tucholsky, S. 11069 (vgl. Tucholsky-BA, S. 17) (c) Rowohlt Verlag]

"Die Moderne um 1900
»Seele«, flüsterte er. Dann knallte ein Schuß. Die aufgeschreckten Hausbewohner liefen durcheinander - - Schutzleute bahnten sich einen Weg durch die Menge. Der Mann im Hausflur war tot. Sein Blut sickerte durch den linken Ärmel auf den hellblau und grünlich karierten Steinfliesboden und verrann in Rinnseln in den staubigen Fugen . . . "
[Werke und Briefe: 1916, Die letzte Seite, S. 23. Digitale Bibliothek Band 15: Tucholsky, S. 885 (vgl. Tucholsky-GW Bd. 1, S. 256) (c) Rowohlt Verlag]

"Alle rufen den Namen eines Liedes, das jedes Grammophon auswendig weiß. Er klingelt es ihnen vor. Nach den ersten belanglosen Passagen, in denen der merkwürdige Ton b in A-Dur dem Tondichter das Gefühl höher schwellen ließ, es mit den polyphonsten Modernen aufnehmen zu können, kommen jene berühmten sechzehn Takte, die eigentlich nur ein großes Atemholen sind, die Pause vor dem Schlag. Schlag zu -!"
[Werke und Briefe: 1916, Nebenan, S. 29. Digitale Bibliothek Band 15: Tucholsky, S. 890 (vgl. Tucholsky-GW Bd. 1, S. 258) (c) Rowohlt Verlag]

"Was sagst du«, fragte er schon im Fahrstuhl, »zu dieser lächerlichen Gründung von meinem alten Sozius Gradnitzer: Träume-, Schäume- und Fata-Morganen-Aktiengesellschaft! Niemals bekommt er die Konzession! Außerdem ist das ein Unfug, den alten Fachmann mit seinem tüchtigen, eingearbeiteten Personal durch so einen modernen Kram zu ersetzen. Was sagst du?« - Anastasia sagte dasselbe."
[Werke und Briefe: 1917, Die Träume, S. 51. Digitale Bibliothek Band 15: Tucholsky, S. 945 (vgl. Tucholsky-GW Bd. 1, S. 284) (c) Rowohlt Verlag]

"Das Kapitel, das hier behandelt werden soll, ist eines der traurigsten des deutschen Lebens. Und es scheint mir an der Zeit, es zu behandeln, weil seine Helden noch niemals den Kopf so hoch trugen wie heute, und weil sie nie drückender auf ihren Untertanen lasteten als in diesen schweren Tagen. Die Organisation des modernen Lebens hat es mit sich gebracht, daß die Zahl derjenigen, die anderen Menschen ›vorgesetzt‹ worden sind, ins unermessliche angeschwollen ist. Jeder Mann ist heute Vorgesetzter und Untergebener; jeder ist Glied in der Kette, jeder hat zu befehlen und zu gehorchen. Das war früher anders. Da befahl der eine, befahl ganz und gar, befahl ausschließlich und in allem - und der andere gehorchte, gehorchte geduckt und gebeugt und hatte nichts als zu gehorchen. Befehlen und herrschen - das war eines."
[Werke und Briefe: 1918, Die kleinen Könige, S. 88. Digitale Bibliothek Band 15: Tucholsky, S. 1043 (vgl. Tucholsky-GW Bd. 10, S. 175) (c) Rowohlt Verlag]


Eva Huber
Eva.Huber@psy.med.uni-muenchen.de

"Ein Krieg könnte notwendig und sittlich sein; aber er sei die Krönung eines langen Ringens nach Wahrheit"

(Heinrich Mann 1915 über den Krieg)

Am Anfang des 20. Jahrhunderts beginnt eine neue Epoche: die Moderne.
Zu diesem Zeitpunkt (1918) gehen sowohl das österreichische als auch das deutsche Kaiserreich unter. Nach Ende des ersten Weltkrieges versuchte man eine demokratische Staatsform, die Weimarer Republik. Nach langem Kampf wurde 1920 das Wahlrecht für Frauen eingeführt, was ein Anfangsschritt in Richtung Emanzipation war. Auch das staatliche Versicherungswesen stellt eine Neuerung zu dieser Zeit dar. Die Menschen konnten sich sicherer fühlen, sollte ihnen etwas zustoßen.
Auch auf dem technischen Gebiet wurden viele Neuerungen und Erfindungen gemacht: das erste motorisierte Flugzeug, die Glühbirne, das Telefon, das Auto, der Zeppelin...
Auch an den Neuerungen in der Kriegsführung des ersten Weltkrieges konnte man merken, dass eine neue Epoche begonnen hat. Aus dem Kampf Mensch gegen Mensch wurde im Weltkrieg eine Materialschlacht. Die Kampfmaschinen wurden verfeinert und weiterentwickelt, so dass der Krieg an Grausamkeit gewonnen hat.
Nicht nur im gesellschaftlich-politischen Raum oder auf dem technisch-naturwissenschaftlichen Gebiet gab es Neuerungen, sondern auch auf der literarisch-künstlerischen Ebene:
Im Unterschied zum klassischen Roman, in dem die Zeit unter ihrem gewohnten Namen erscheint, der Ort vertraut ist, die Erzählsituation durch gehobene Sprache und "behaglich erzählendem Ton" eingeführt wird, sind zahlreiche moderne Romane "Problemromane" , die " atmosphärisch hoch gespannt oder gehaltlich widerlich" erscheinen. "Kaum ein Satz der Bibel und des Glaubens an die Menschheit, der nicht deformiert, durch die Gosse der Parodie und des niederen Instinktes gezogen worden wäre. Die Menschen werden als gemeine Scheusale gezeigt, als durchschnittliche Mitläufer, arrivierte Manager, als Lügner und Lüstlinge, Folterknechte und ausgelieferte Opfer." . Im modernen Roman endet die Suche nach dem Lebenssinn nicht mehr in der Sinnfindung, sondern die Frage nach dem Lebenssinn wird gar nicht mehr gestellt. Der moderne Romanautor und seine "‚Figuren'" stimmen der Welt aufgrund ihrer Erfahrungen nicht mehr zu; an der Stelle eines früheren grundsätzlichen Jas steht nun eine grundsätzliche Skepsis, wenn nicht sogar ein grundsätzliches Nein. " Alle von der Gesellschaft der letzten drei Generationen öffentlich vorgezeigten Ganzheiten von Lebenssinn - sei es von der preußisch-Wilhelminischen, der kaiselich-österreichischen, der Weimarischen, der nazistischen oder der jetzigen Wohlstandsgesellschaft - wurden im modernen Roman mehr oder minder gänzlich als Scheinanspruch entlarvt." .
Der traditionelle Roman hatte seinen Helden. Zu Beginn des ersten Weltkrieges begann die Notwendigkeit eines Helden in frage gestellt zu werden. "Der ‚Held' wird jetzt zur synthetischen oder parabolischen Figur, zum modellhaften ‚Phänotyp' oder zum schwer faßbaren Zentrum eines exemplarischen Ich-Bewusstseins, in das der Autor das Erfahrungs-, Anschauungs- und Bewußtseinsmaterial seiner Zeit hineinpackt." . Die Hauptfigur im modernen Roman ist eine "geängstigte, geplagte, extrem stumpfe, extrem gespaltene oder extrem Intellektuelle Kreatur." . Die heutigen Schriftsteller zeigen mit Vorliebe Aspekte eines Menschen, die Armut des Menschen, Ansichten von verschiedenen Standorten, Modellbedingungen und Modellreaktionen, Beobachtungen, Beschreibungen und Vorstellungen eines Falls." . Im modernen Roman wird auch keine Geschichte mehr erzählt (= Fabel). "Wenn die Reflexion und denkerische Analyse überhand nimmt, wird die Fabel unmöglich." . "Nicht ein kausal geordnetes und in ursächlicher Folge enthülltes Geschehen steht im Mittelpunkt ihrer [ der Autoren] Romane, sondern die Assoziationen, Erinnerungen, die äußeren und inneren Bilder, die Trieb-, Imaginations- und Gedankenreflexe, welche die scheinbar kausale Logik des menschlichen Bewußtseins verwandeln, welthaltiges Geschehen durch Bewußtseinslogik spiegeln." - "(‚stream of consciousness')" .
Auch den Erzähler gibt es im modernen Roman nicht mehr. "Den überlegenen olympischen Erzähler, jenen Erzähler, der seine Helden als wirkliche Gestalten vorstellt und seine fiktive Handlung als wirkliches geschehen vorgibt, der zugleich die innersten Regungen seiner Helden-Geschöpfe kennt, ihnen ihr Maß an Erziehung, Leidenschaft, Begabung, Freiheit Erfolg und Tragik zuteilt und ihre Schritte vom ersten bis zum letzten lenkt, dieser Erzähler, der dem Leser alles Was, Wie und Warum klarmachen kann, gibt es im modernen Roman nicht mehr." .

Literaturverzeichnis:
Herbert Kraft: Kafka. Wirklichkeit und Perspektive. Bebenhausen: Rotsch 1972
André Banuls: Heinrich Mann. Stuttgart: Kohlhammer 1970
Max Brod (Hrsg.): Gesammelte Werke. Franz Kafka. Briefe 1902 - 1924. New York City: Schocken Books Inc. o.J.
Paul Konrad Kurz: Über moderne Literatur. Frankfurt am Main: Knecht 1967


Birgit Klötzer
birgitkloetzer@web.de

Ernst Jünger, "Feuer und Blut" Kap. 4. In ders.: "Sämtliche Werke", Erste Abteilung, Tagebücher 1.
Der erste Weltkrieg. Stuttgart 1978, S. 469-481

Gemütlichkeit von Leuten, welche nicht die geringste Sorge drückt...und wir hoffen, daß vor unserem Angriff die Sonne die Felder noch trocknen wird. Beim Antreten des Bataillons auf dem Schloßhof regnet es immer noch. Trotzdem ist die Stimmung gut, vorzüglich sogar.

Vor uns hören wir schon das Tuckern der Maschinengewehre, und links neben uns, in ziemlicher Entfernung, schlagen in längeren Abständen Granaten ein, die man nach der bei uns üblichen Unterscheidung schon als Hausmarke bezeichnen kann. Sonst ist es ruhig, das sehen wir als gutes Zeichen an.

Der Erzähler distanziert sich von dem Kriegsgeschehen, indem er es als romantischen Ausflug deklariert. Gleichzeitig wird das Erleben eines erfahrenen Kriegers geschildert und der Schrecken hinter dem Aspekt des Bekannten (Hausmarke) verschleiert.

Aber was ich dann sehe von meiner kleinen Nische aus, diesem Erker, aus dem ich in den gähnenden Trichter wie in eine schauerliche Arena hinunterblicke, das fährt mir wie ein eisiger Schnitt durch das Herz und macht mich mit einem Schlage hilflos und gelähmt, wie eine grelle Erscheinung in einem gespenstischen Traum. Auf dieser Granate hat der Tod gehockt, er ist mitten ins volle Leben hineingesprengt.
Das Herz möchte ihr Bild von sich abwenden und nimmt es doch in allen Einzelheiten in sich auf.
Und gleich wird wieder die Erinnerung in ihrer ganzen Unerbittlichkeit wach...

Durch das Verwenden des Präsens wird sich auf das Geschehen in seinem unmittelbaren Erleben konzentriert und auf diese Weise der Schrecken der permanenten Bedrohung des Lebens greifbarer dargestellt. Auffällig ist auch, daß keine historischen Daten angegeben werden, womit darauf verwiesen wird, daß nun der Krieg zu einem Ereignis wird, das so drastisch, intensiv und traumatisch ist, daß alles andere keine Rolle mehr spielt.
Mit Hilfe der Sprache wird versucht, das Geschehen darzustellen. Somit wird das Trauma des Erzählers sichtbar, denn er verwendet zum Beispiel unpersönliche Konstruktionen, wie "das Herz" und nicht "mein Herz".
Einen Schutzschild kann der Erzähler nicht aufbauen, da die Ereignisse, die er abwenden will, doch "in allen Einzelheiten" aufgenommen werden.
Die Realität des Krieges und die Unerbittlichkeit der neuen Waffen werden als traumatisches Ereignis erfahren, das Hilflosigkeit produziert. Durch den Begriff "Arena" und die Positionierung als Zuschauer wird versucht Distanz herzustellen, was nicht gelingt, gleichzeitig erscheint das Erlebte wie ein gespenstischer Traum, da es als Realität nicht greifbar ist.
Die Aussagen des Erzählers deuten die Kriegsneurosen an, die in diesem Krieg epidemieartig auftraten und demzufolge ein Problem für die militärische Führung darstellten. Als Auslöser dieser Neurosen sah man unter anderen Aspekten auch gefahrvolle Situationen im Krieg an, so zum Beispiel die Explosion einer Granate. Im Zuge dieser Situation setzten sich zeitgenössische Analytiker (Freud, Abraham, Ferenczi) intensiv mit den Kriegsneurosen auseinander. So ist die Manifestation der Kriegsneurose, die auch in dem Text von Jünger angedeutet wird, eine Folge dieses Krieges und ein Krankheitsbild, das sich im Kontext von Krieg und Moderne herauskristallisiert hat.
In diesem Zusammenhang ist zum Beispiel auch eine Novelle von Robert Musil sehr spannend, die jedoch erst 1928 erschien: "Die Amsel".


Franziska Meister
Franziska.Meister@campus.lmu.de

Erster Weltkrieg und literarische Moderne

Der erste Weltkrieg führte nicht nur zu einer Neugliederung der Welt, sondern brachte auch ein vollständig verändertes Europa hervor, das durch den ersten Krieg im industriellen Maßstab zwangsmodernisiert wurde. Damit ist gemeint, dass der sogenannte moderne Krieg in einem Maß mechanisiert war, das die Welt vorher noch nicht gesehen hatte. Innerhalb der vier Jahre wurden immer mehr und immer grausamere Waffen erfunden und eingesetzt. Somit bot dieser Krieg den zeitgenössischen Malern, die zu einem großen Teil auch persönlich beteiligt waren keines der Motive mehr, die frühere Schlachten ihnen geboten hätten. Statt dessen Senfgaswolken, in rauchverhüllte Wüsten verwandelte Schlachtfelder. Vor allem die jüngeren Künstler wagten sich deswegen an makabre Darstellungen, benutzten kräftige, beißende Farben bis hin zu einer kubistisch-futuristischen Malweise, um das Erlebte in bildende Kunst umzusetzen. "Der moderne Krieg konnte nur auf moderne Weise gemalt werden." (Vorwort zur Ausstellung "Die Farbe der Tränen").
Für Thomas Mann war der Krieg eine "ungeheure Hoffnung", wie er in seinem Essay "Gedanken zum Krieg" schreibt. Darüber hinaus spricht er von Befreiung und Reinigung, die der Krieg bringen sollte, da es mit der Welt so wie es bis zu diesem Zeitpunkt war, nicht weitergehen könne. Auch er ist der Meinung, dass der Krieg neue, in seinem Fall literarische Formen verlangte, allerdings nicht, weil die Menschen durch erlebte Gräuel dazu gezwungen werden, sondern weil der Dichter begeistert ist "vom Krieg an sich, [...] als Heimsuchung, als sittliche Not" (Thomas Mann: "Gedanken im Kriege" in Essay Band1, S. 193). Aber nicht nur der Krieg brachte entscheidende Veränderungen mit sich: Die rasanten Entwicklungen auf dem Gebiet der Psychoanalyse boten den Schriftstellern ebenfalls neue Mittel ihre Werke zu gestalten.
"Kafka und Benn gehören in ein experimentelles Jahrhundert", schrieb Max Bense (Gottfried Benn: "Essays und Reden", Rückseite des Umschlags). Kafka entdeckte hinter der Fassade des Realismus eine zweite Wirklichkeit, er machte das Zugeständnis, dass ihm der Zugang zur Metaphysik versperrt ist. Dieses Zugeständnis wird als Hinweis auf eine neue Epoche, nämlich die Moderne gedeutet. Darüber hinaus gilt Kafkas Werk "Die Strafkolonie", dessen eigentlicher Held eine Maschine ist, als Parabel der Moderne. Es geht um technischen Fortschritt, der, obwohl er bedrohlich wirkt, nicht abgelehnt wird; der Wissenschaftler, der von den neuen Errungenschaften geblendet wird, wird zu einer Karikatur des modernen Materialismus. Die Humanität geht hinter der Technik verloren.
Auch Gottfried Benn schreibt von einem "modernen Ich" (Titel eines Essays in "Essays und Reden", S. 29), das nach dem ersten Weltkrieg entstanden ist. Er betont die erstaunliche Entwicklung der Technik, die eine Erstarkung des individuellen Subjekts nach sich zog. Von einem Bewusstsein, das kaum die eigene Stellung von der der anderen unterschied konzentrierte sich das subjektive Lebensgefühl zu der Bewusstheit einer individuellen Existenz. Benn bezieht zwar den Umbruch, von dem er spricht, nicht direkt auf den ersten Weltkrieg, aber doch auf die Mechanisierung, die zu der Gewaltigkeit des Krieges beigetragen hatte.

Literatusverzeichnis:
Benn, Gottfried: Essays und Reden in der Fassung der Fassung der Erstdrucke. Hrg: Hillebrand, Bruno. Frankfurt am Main 1989. Fischer Taschenbuchverlag GmbH
Mann, Thomas: Essays. Band1, Frühlingssturm 1892-1918. Hrg: Kurzke, Hermann und Stachorski, Stephan. Frankfurt am Main 1993. S. Fischer Verlag GmbH
Mann, Thomas: Essays. Band2, Für das neue Deutschland 1919-1925. Hrg: Kurzke, Hermann und Stachorski, Stephan. Frankfurt am Main 1993. S. Fischer Verlag GmbH
Internet:
www.art-ww1.com/d/present.html (Vorwort zur Ausstellung "Farbe der Tränen")
www.deslit.de/Kafka/kolonie.htm


Dominik Petzold
dominikpetzold@hotmail.com

Wahrnehmungen des Ersten Weltkrieges Textauszüge

Arnold Zweig, Der Streit um den Sergeanten Grischa. Potsdam 1928
[S. 65] Krieg ist keine kleine Sache; wenn er erst angefangen hat, macht er sich haben auch viele häßliche Salven abgegeben. Alle Soldaten sind gleich.
[S. 195f.] Früher, vor wenigen Wochen noch, lag ihm die Flinte, ein vertrauter, lustvoller Gegenstand. gedankenlos in der Hand. Die Lust des tötenden Menschen, der seine Wirkung in die Weite streut, als vermöge er auf Hunderten von Metern zu pusten und ein Leben auszulöschen wie ein Flämmchen, das es ja auch war, hatte ihn erfüllt und schwellend hochgetragen; er war der Mann mit dem Bajonett, der Fechter und Stößer im leidenschaftlich hellen Rausch seiner tatfroh wirbelnden Glieder. Jetzt empfand er dumpf auch den Mann auf der Gegenseite als den nicht nur, der auch eine Kugel losschnellt, sondern auch als den, den sie trifft, der den Schlag und das Loch in sein Fleisch erhält, den Stoß und den grausigen Schmerz inmitten seiner Person fühlt.
[S. 276[ Das Leben ist so einfach... lch habs gefunden. Es regiert nichts Böses in der Welt und kein. Übel. Alles ist klar und gut und freundlich und der Krieg ein Irrtum weit und breit. Aus Gewehrschäften macht man Hammerstiele; für Stahl und Eisen ist werkzeugliche Verwendung.

Ludwig Renn, Krieg. In: Gesammelte Werke in Einzelausgaben, Band 3. Berlin, Weimar 1985
[S. 101f.] Gegen Abend hörte ich rechts ein Stöhnen, das sich wiederholte. Ziesche begann sich auch unter der Zeltbahn zu bewegen. Weiß schien zu schlafen. Aber nach einer Weile bewegte er die Hand. Ich kroch zu ihm. In unserem Loch stand eine Pfütze. Ich deckte ihm das Gesicht auf.
Brauchst du etwas?"
"Nein", lächelte er. "Mir geht's gut."
Ich versuchte wieder zu lächeln, aber konnte es nicht. Ich deckte ihn wieder zu. In mir krampfte es sich: der stirbt! -
Aber wenn er sich doch wohl fühlt? Man kann sich doch nicht freuen, auch wenn einer angenehm stirbt. - Aber vielleicht ist es wirklich nicht so schlimm? [...]
Mehrere Menschen bewegten sich auf uns zu. Es war eine Patrouille mit Krankenträgern. Wir übergaben ihnen unsere Verwundeten. Ich gab Ziesche und Weiß die Hand, wußte aber weder etwas zu sagen noch nur zu denken. Den Eckold wagte ich nicht anzurühren.

Ernst Jünger, Der Kampf als inneres Erlebnis. In: Werke. Band 5: Essays I. Betrachtungen zur Zeit. Stuttgart 1961
[S.19f.] Auch aus Blutdurst. Das ist neben dem Grauen das zweite, was den Kämpfer mit einer Sturzflut roter Wellen überbrandet: der Rausch, der Durst nach Blut, wenn das zückende Gewölk der Vernichtung über den Feldern des Zornes lastet. So seltsam es manchem klingen mag, der nie um Da-Sein gerungen: Der Anblick des Gegners bringt neben letztem Grauen auch Erlösung von schwerem, unerträglichem Druck. Das ist die Wollust des Blutes, die über dem Kriege hängt wie ein rotes Sturmsegel über schwarzer Galeere, an grenzenlosem Schwunge nur der Liebe verwandt. Sie zerrt schon im Schoße aufgepeitschter Städte die Nerven, wenn die Kolonnen im Regen glühender Rosen den Morituri-Gang zum Bahnhof tun. Sie schwelt in den Massen, die sie umrasen mit Jubelruf und schrillen Schreien, ist ein Teil der Gefühle, die auf die zum Tode schreitenden Hektakomben niederschauern. Gespeichert in den Tagen vor der Schlacht, in der schmerzhaften Spannung des Vorabends, auf dem Marsche der Brandung zu, in der Zone der Schrecknisse vorm Kampf aufs Messer, lodert sie auf zu knirschender Wut, wenn der Schauer der Geschosse die Reihen zerschlägt. Sie ballt alles Streben um einen Wunsch: Sich auf den Gegner stürzen, ihn packen, wie es das Blut verlangt, ohne Waffe, im Taumel, mit wildem Griff der Faust. So ist es von je gewesen.
Das ist der Ring von Gefühlen, der Kampf, der in der Brust des Kämpfers tobt, wenn er die Flammenwüste der riesigen Schlachten durchirrt: Das Grauen, die Angst die Ahnung der Vernichtung und das Lechzen, sich im Kampfe völlig zu entfesseln. Hat er, eine durch das Ungeheure rasende kleine Welt in sich, die bis zum Platzen gestaute Wildheit in jäher Explosion, dem klaren Gedächtnis für immer verlorenen Augenblicken entladen, ist Blut geflossen, sei es eigener Wunde entströmend oder das des anderen, so sinken die Nebel vor seinen Augen. Er starrt um sich, ein Nachtwandler, aus drückenden Träumen erwacht. Der ungeheuerliche Traum, den die Tierheit in ihm geträumt in Erinnerung an Leiten, wo sich Mensch in stets bedrohten Horden durch wüste Steppen kämpfte, verraucht und läßt ihn zurück, entsetzt, geblendet von dem Ungeahnten in der eigenen Brust, erschöpft durch riesenhafte Verschwendung von Willen und brutaler Kraft.
Dann erst erkennt er den Ort, an den ihn der stürmende Schritt verschlagen, erkennt das Heer von Gefahren, denen er entronnen, und erbleicht. Hinter dieser Grenze beginnt erst der Mut.
[S. 104] Ja, wir sind fröhlich und siegesgewiss. Diese Tage und Nächte vor dem Kampfe haben einen seltsamen Reiz. Alles Beschwerende sinkt ins Unwesentliche, der Augenblick wird köstlicher Besitz. Zukunft, Sorge, alles Lästige, mit dem uns trübe Stunden überschwemmten, wird wie ein ausgerauchtes Zigarettenende zur Seite geschleudert. In wenigen Stunden wird vielleicht jene verworrenen Insel hinter uns verblassen, der wir als Robinsons unter vielen unseren Sinn zu geben versuchten. Das Geld, diese Quelle der Sorge, wird Überfluss und Unsinn, man vertrinkt den letzten Taler, und sei es nur, um ihn loszuwerden. Eltern werden weinen, doch die Zeit nimmt alles hinweg. So viele Männer auch fallen, das Mädchen wird immer noch einen finden, und ihre Liebe zu dem Toten wird mit der neuen zu einem Gefühle sich wandeln. Freunde, Wein, Bücher, die reiche Tafel süßer und bitterer Genüsse, alles wird mit dem Bewußtsein verflackern wie das letzte Kerzenlicht am Weihnachtsbaum. Man stirbt mit der Hoffnung, daß es der Welt gut gehe, und fühlt im letzten Zucken gerade noch, wie ilüchtig man im Grunde an Menschen und Dingen vorübergeschritten ist. Der große Abend, Lösung, Vergessen, Untergehen und Rückkehr aus der Zeit in die Ewigkeit, aus dem Raum in das Unendliche, aus der Persönlichkeit in jenes Große, das alles im Schoße trägt.


Michael Triebel

Die Zeit um die Jahrhundertwende ins 20. Jahrhundert wird mit dem Schlagwort "Die Moderne" bezeichnet. Was allerdings macht diesen Zeitabschnitt zu einem modernen und worin äußert sich dies?
Um der Frage nachzugehen, inwieweit bei zeitgenössischen Autoren etwas von dieser modernen Zeit festzustellen ist, soll im Folgenden "Die Welt von Gestern. Erinnerungen eine Europäers" von Stefan Zweig im Mittelpunkt der Betrachtungen stehen. [alle Zitate aus der Ausgabe Frankfurt/Main 1987]
Stefan Zweig, der 1881 in Wien geboren wurde, gibt bereits im Vorwort seines Werkes einen kurzen Hinweis darauf, dass er in diesem Buch, obgleich es sich um eine Autobiographie handelt, nicht so sehr sein persönliches Schicksal in den Vordergrund schreiben will, sondern "das einer ganzen Generation - unserer einmaligen Generation, die wie kaum eine im Laufe der Geschichte mit Schicksal beladen war. Jeder von uns, auch der Kleinste und Geringste, ist in seiner innersten Existenz aufgewühlt worden von den fast pausenlosen vulkanischen Erschütterungen unserer europäischen Erde" [S. 7]. Im Gespräch mit jüngeren Freunden stellt Zweig immer wieder fest, "wieviel für sie schon historisch oder unvorstellbar von dem geworden ist, was für mich noch selbstverständliche Realität bedeutet." [S. 9] Zwischen dem Heute, dem Gestern und dem Vorgestern sind "alle Brücken abgebrochen" [S. 9].
Doch was unterscheidet diese Zeit von der davor, was unterscheidet diese Generation von den vorangegangenen? Die Antwort auf diese Frage lässt sich bei Stefan Zweig nachlesen, wenn er folgenden Vergleich anstellt: "Mein Vater, mein Großvater, was haben sie gesehen? Sie lebten jeder ihr Leben in der Einform. Ein einziges Leben vom Anfang bis zum Ende, ohne Aufstiege, ohne Stürze, ohne Erschütterung und Gefahr, ein Leben mit kleinen Spannungen, unmerklichen Übergängen; in gleichem Rhythmus, gemächlich und still, trug sie die Welle der Zeit von der Wiege bis zum Grabe.[...] Irgendein Krieg geschah wohl irgendwo in ihren Tagen, aber doch nur ein Kriegchen, gemessen an den Dimensionen von heute, [...] und nach einem halben Jahr war er erloschen, vergessen, ein dürres Blatt Geschichte, und es begann wieder das alte, dasselbe Leben. Wir aber lebten alles ohne Wiederkehr, nichts blieb vom Früheren, nichts kam zurück" [S. 9].
Um den Zeitraum von der Jahrhundertwende bis hin zum ersten Weltkrieg in eine "handliche Formel" [S. 13] zu packen, verwendet Stefan Zweig den Ausdruck des "goldene[n] Zeitalter[s] der Sicherheit" [S. 13]. Alles in der fast tausendjährigen österreichischen Monarchie schien auf Dauer gegründet zu sein. "Jeder wußte, wieviel er besaß oder wieviel ihm zukam, was erlaubt und was verboten war. Alles hatte seine Norm, sein bestimmtes Maß und Gewicht." [S.13] Es schien zu jener Zeit also alles festgefahren in der Zufriedenheit über die Sicherheit; das Gefühl der Sicherheit war der "anstrebenswerteste Besitz von Millionen, das gemeinsame Lebensideal." [S. 14]
Im Zusammenhang mit der Sehnsucht nach Sicherheit erlebte auch das Versicherungswesen einen kräftigen Boom; man konnte sich gegen alles versichern lassen. Doch gerade in diesem "rührenden Vertrauen, sein Leben bis auf die letzte Lücke verpalisadieren zu können gegen jeden Einbruch des Schicksals, lag trotz aller Solidität und Bescheidenheit der Lebensauffassung eine große und gefährliche Hoffart." [S. 14]
Das feste Vertrauen auf diese durch nichts und niemanden zu erschütternde Sicherheit war sicher mit verantwortlich dafür, dass das neunzehnte Jahrhundert "in seinem liberalistischen Idealismus ehrlich überzeugt [war], auf dem geraden und unfehlbaren Weg zur >besten aller Welten< zu sein." [S. 14]
Auf vergangene Epochen, die von "Kriegen, Hungersnöten und Revolten"" gekennzeichnet waren, blickte man verächtlich herab; man glaubte, die Menschen seien damals eben noch "unmündig und nicht genug aufgeklärt gewesen." [S. 14]. Jetzt allerdings glaubte man, es könne nicht mehr allzu lange dauern, bis auch "das letzte Böse und Gewalttätige endgültig überwunden sein würde" [S. 14].
Bestärkt wurde dieses Vertrauen auf eine kontinuierliche Besserung und auf einen stetigen Aufstieg der Menschen durch den sich immer rasanter bahnbrechenden Fortschritt der Wissenschaft und der Technik. In ganz unterschiedlichen Bereichen ließ sich dieser Fortschritt beobachten: "Auf den Straßen flammten des Nachts statt der trüben Lichter elektrische Lampen, [...], schon konnte dank des Telephons der Mensch zum Menschen in die Ferne sprechen, schon flog er dahin im pferdelosen Wagen mit neuen Geschwindigkeiten, schon schwang er sich empor in die Lüfte im erfüllten Ikarustraum." [S. 15]
An "barbarische Rückfälle" [S. 15], wie zum Beispiel Kriege zwischen den Völkern in Europa, glaubte man nicht.
Stefan Zweig resümiert die Einstellung der damaligen Zeit folgendermaßen "Beharrlich waren unsere Väter durchdrungen von dem Vertrauen auf die unfehlbar bindende Kraft von Toleranz und Konzilianz. Redlich meinten sie, die Grenzen von Divergenzen zwischen den Nationen und Konfessionen würden allmählich zerfließen ins gemeinsame Humane und damit Friede und Sicherheit, diese höchsten Güter, der ganzen Menschheit zugeteilt sein." [S. 15]


Martina Weber
ti_web@hotmail. com

"Modern sind alte Möbel und junge Nervositäten"
Aspekte der literarischen Moderne aus der Perspektive der Jahrhundertwende

Im Morgenblatt der Neuen Frankfurter Zeitung erschien am 9. August 1893 ein Artikel des gerade 19-jährigen Hugo von Hofmannsthal über den italienischen Dichter Gabriele d'Annunzio. Bevor er sich jedoch dem eigentlichen Werk widmet, setzt der junge Wiener programmatisch eine Beschreibung dieser leichter zu fühlenden als zu definierenden Empfindung voran, die seine Generation ergriffen habe, dieses "Merkwort der Epoche", modern. Hofmannsthal sucht dieses Phänomen von zwei Eckpunkten her zu fassen: ,die Analyse des Lebens und die Flucht aus dem Leben" manifestieren sich für ihn als Experimentiertrieb und Schönheitstrieb in seiner Zeit.
Auf der einen Seite steht der rasante Fortschritt von Wissenschaft, Technik, Medizin, der den Transfer auf Kunst und Literatur nach sich zieht und in der Verbindung mit den sozialtheoretischen Ansätzen - vorwiegend aus Frankreich - die Entstehung des Naturalismus erst bedingt. Wenn Hermann Bahr die Moderne als Gegenbewegung nach dem naturalistischen Zwischenakt heraufbeschwört, bedient er sich bei eben dessen Schlagwörtern, die er unter der Fahne des Nervösen umwertet. Der Ausdruck stelle das Bindeglied beider Bewegungen dar, der Gang nach innen in der Suche nach der Wahrheit die unüberbrückbare Differenz in der breiten Vielfalt der Wege, das sogenannte Moderne aufzuschlüsseln. Von August Strindbergs Wirkung im Berliner "Schwarzen Ferkel" über Frank Wedekinds 1891 publiziertes "Frühlingserwachen" bis in den Wiener Zirkel hinein läßt sich diese unruhige Jagd beobachten; mit der Veränderung der Wahrnehmung kam notwendig, die auf ihr fußende gesellschaftliche Ordnung und so letztlich auch die über sie definierte literarische Welt ins Wanken. Die Nerven gelten spätestens seit Joris-Karl-Huysmans "A Rebours" als der unmittelbarste Zugang in dieses sich destabilisierende Innere; der "auflösende" Blick des sezierenden Ästheten, der begonnen hatte, tiefer in das Bewußt-Sein des Menschen vorzudringen, führt nun zu den Studien über die Hysterie von Dr. Josef Breuer und schließlich zur Psychoanalyse Freuds wie zur Zerlegung des menschlichen Innenlebens als Baukasten im Machschen Sinne - oder um in Hofmannsthals Worten zu sprechen, zur "Anatomie des eigenen Seelenlebens".
Es ist demgemäß kaum möglich, ein Einheit suggerierendes Bild aus dieser Zeit heraus zu skizzieren, die sich selbst aus verschiedensten Blickwinkeln auf die verkommene Gesellschaft zu entwerfen suchte. Trotzdem sahen sich die Literaten vor der Jahrhundertwende - wenigstens soweit es den Wiener Kreis betrifft - weniger als literarische Revolutionäre, sondern erfuhren ihre Zeit als schwer zu bestimmende Schwellensituation, die mit dem Repertoire der Modifikationen etwas Neues hervorzubringen suchte, ohne auch nur der Gewißheit zu trauen, daß dieses Andere überhaupt existiert: "Vielleicht betrügen wir uns. Vielleicht ist es nur Wahn, daß die Zeit sich erneut hat. Vielleicht ist es nur der letzte Krampf, das überall stöhnende, der letzte Krampf vor Erstarrung in das Nichts"
(Hermann Bahr).
Ein faszinierendes Beispiel dieser Synthese aus einer psychologischen Versuchsanordnung und dem tastenden Schritt in ein nicht greifbares Neues bietet Hofmannsthals "Elektra" dar. In den Begegnungen der ehemals antiken Figur rekapituliert der Dichter parallel zu der ihm Chandos-Brief thematisierten Sprachkrise wesentliche Diskursfelder der Jahrhundertwende, aus denen ich die Referenz zur Zeit als eines der Leitmotoive beispielhaft kurz herausgreifen möchte. Der als fiktives Zwiegespräch mit Agamemnon fungierende Monolog zeigt Elektras Erstarrung im Festhalten an dem Moment des Mordes, der ihr ganzes Sein beherrscht; Chrysothemis dagegen unterliegt in ihrer Sehnsucht nach der Veränderung der Situation der in ihrer Schwester verkörperten Macht der Erinnerung, während Klytämnestras Person sich in der Verdrängung des Mordes destabilisiert; indem sie den tödlichen Augenblick ausblendet, zerstört sie die zeitliche Kontinuität, ohne die das Ich zerfallen muß. Alle drei Frauenfiguren definieren sich damit über ihr jeweiliges Verhältnis zur Zeit, das im Drama durchgespielt wird. Die wirkungsgeschichtliche Resonanz belegt eindrucksvoll, daß Hofmannsthal mit der "Elektra" einen Nerv seiner Zeit getroffen hatte. Mit der damit einhergehenden Abkehr vom lyrischen Drama, von der elitären Kunst eines Stefan George wandte sich er sich gegen den blanken Ästhetizismus. Mit seinem Essay "Der Dichter und diese Zeit" erklärt er schließlich den Autor schließlich zum leidend-genießenden Beobachter der Zeit, zum Medium, das die Elemente der Zeit in sich zu verknüpfen weiß. Der Schönheitstrieb hatte ohne eine in der Realität verwurzelte Basis seine Bedeutung verloren; Literatur stellte sich zunehmend der zeitgenössischen Diskussion.
Auf der anderen Seite findet der Ästhetizismus seine Abverwandlung in der doppelbödigen Inszenierung der Gesellschaft wie sie etwa Arthur Schnitzler betreibt, um diesen Aspekt hier nur mehr kurz anzureißen. Der folgende Eklat um Schnitzlers im Dezember 1900 in der "Neuen Freien Presse" veröffentlichte Novelle "Leutnant Gustl" demonstriert von österreichischer Seite her eine vom Militarismus mit seinen Idealen durchdrungene Na6on, die in ihrem absoluten Anspruch den Einzelnen ihren Normen unterwirft; wo Hofmannsthal erst in dem "exaltierten Ton von der Mama" Adelaide aus seiner "Arabella° den Spagat zwischen der Konvention und dem Individuum rückläufig beleuchten wird, führt Schnitzler in seinen Novellen und vor allem den Einaktern die absurde Falschheit der äußeren Umstände immer wieder vor Augen. Auf preußischer Seite gipfelt diese Bloßlegung der zivilen Variante des Spießbürgertums 1914 schließlich in die Katastrophenmentalität des "Untertanen" Diederich Heßling von Heinrich Mann. Gerade dieses Abarbeiten an der verbrauchten Zeit kennzeichnet die modernen Bestrebungen; allerdings wurden sie bereits an der Jahrhundertwende in verschiedene Bahnen kanalisiert. Derartiger Kritik steht umso entschiedener die Affirmation der nationalen Selbstbestimmung gegenüber. Aus einer europaweit sich proklamierenden Moderne diffundiert nicht nur der Gedanke einer übergreifenden kulturellen Identität, sondern auch ein fataler imperialistischer Nationalismus, der in den folgenden Jahren zur beherrschenden Strömung heranwächst, den Weg in den ersten Weltkrieg weisen wird und Hofmannsthals Wort aus dem Jahre 1893 Lügen straft: "erst aus der Perspektive des Nachlebenden ergibt sich das Grundmotiv der verworrenen Bestrebungen". Die Illusion einer einheitlichen Zielsetzung scheiterte am aufbrechenden Nationalismus einer zutiefst verunsicherten Zeit, die sich in der Moderne auf die Suche nach Erneuerung gemacht hatte.