Thomas Mann: Gedanken im Kriege
[in: ders., Essays. Band 1: Frühlingssturm 1893-1918. Hg. von Hermann Kurzke und Stephan Stachorski, Frankfurt/Main 1993]

1. Stellung des Textes zum Krieg

Thomas Mann entfaltet in seinem Essay Gedanken im Kriege, 60 Tage nach Kriegsbeginn in der Neuen Rundschau veröffentlicht, die antagonistischen Modelle "Kultur" und "Zivilisation", anhand derer paradigmatisch die ,Charaktere" des deutschen bzw. französischen Volkes analysiert werden sollen (siehe 2.). Das Naturereignis Krieg wird zur Entschlüsselung dieses Gegensatzpaares auf eine rein funktionale Rolle reduziert. Gegenstand ist nicht das Phänomen an sich, dem in der Analogisierung des aktuellen Krieges mit dem Siebenjährigen Krieg überzeitlicher, vorhistorischer und gleichsam natürlicher Charakter zugesprochen wird; vielmehr wird dessen katalytische Wirkung auf die Entfaltung der eigentlichen Wesen der Völker betont. Im selben Maße wie nun in Frankreich Hysterie und Zügellosigkeit zum Ausbruch kämen, würden in Deutschland die "Zivilisationserscheinungen" (S. 192) Dekadenz und Faulheit überwunden. In den reinigenden Prüfungen der Schlachten entfalte sich Deutschlands "ganze Schönheit und Tugend"(S. 199): die "ewige deutsche Kultur" erblühe neu, der "deutsche Geist" finde wieder zu sich selbst. Diesen rein kulturellen Gesichtspunkten der Kriegsbeurteilung stehen weder menschliche noch strategisch-operative Kategorien gegenüber. Dem "Sonderwegsbewußtsein", das zudem durch die parallel entfaltete Personifikation in Friedrich dem Großen untermalt wird, ist zwangsläufig ein kultureller Sendungswille verbunden: Das "verbürgerlichte" (S. 194) Frankreich würde durch die unvermeidliche Niederlage genötigt werden, "uns zu studieren" (S. 205). Mann verkehrt das vermeintliche Kriegsziel Frankreichs kurzerhand ins Gegenteil: Die Zivilisierung des ,barbarischen" Deutschland (S. 203) werde durch den Krieg gerade aufgehalten; umgekehrt solle Frankreich "am deutschen Wesen genesen".


2. Kulturbegriff des Textes

Mann entwickelt seinen Kulturbegriff in antagonistischer Abgrenzung zum Terminus "Zivilisation". Auf Nietzsche und Lamprecht rekurrierend hatte er dieses Gegensatzpaar schon 1909 verwendet. In Ablehnung des französischen Propagandaslogans "Zivilisation gegen Militarismus" (S. 195) werden die Begrifflichkeiten nun politisch aufgeladen und als Ordnungsprinzipien zur inneren Abgrenzung der Nachbarstaaten Deutschland und Frankreich benutzt. Alle Ideen und Institutionen der Zivilisation werden als zersetzend abgeurteilt; im selben Maße entspreche die deutsche Kultur dem Idealzustand menschlichen Seins - mit den Begriffen "Tiefe", "Dämonie", "Heldentum" und "Moralität" nur vage beschreibbar. Als Maßstab zur Bewertung der Ordnungsprinzipien dient deren Potenz, ein fruchtbares Umfeld zur Entfaltung von Kunst zu schaffen die politische und gesellschaftliche Dimension wird nur vage in die Betrachtung einbezogen; die entsprechenden Postulate bleiben unausgegoren und widersprüchlich.







Dieser Kulturbegriff läßt sich nicht innerhalb der Kategorie "Modernität" beurteilen: Anders als der an die französische Revolution gebundene Zivilisationsbegriff wird die deutsche "Eigenart" als unhistorische, metaphysische Begebenheit dargestellt. Historistische Erklärungsmuster, etwa auf klimatische, geographische oder ethnographische Faktoren bezugnehmend, bleiben angesichts des Ewigkeitscharakters deutscher Kultur zwangsläufig obsolet. Losgelöst von zeitlichem Rahmen wird jeglicher Geschichtsprozess verneint: Der - ebenfalls von der zeitlichen Dimension gelöste - Krieg initiiert keine Entwicklung, sondern katalysiert lediglich die Entfaltung des nur "verdeckten" deutschen Wesens das gleichbleibend existiert, nur unterschiedlich erfahrbare Ausdrucksformen annimmt. (Das gesamte Weltbild Manns erscheint derart ungeschichtlich: Auch die europäische Mächte werden auf die ewig wähnende Gegnerschaft zu Deutschland reduziert. ) Angesichts dieser Ablehnung von "Zeit" als Faktor von Entwicklung und Gestaltung menschlicher Wirklichkeit erscheint die Einordnung unter einen normativen Modernitätsbegriff und somit auch die Wertung als anti-modern verfehlt.

3. Aufgabe des Dichters / der Literatur

Mann leistet mit den "Gedanken im Kriege" seiner selbstgewählten Repräsentantenrolle genüge. Diese bedeutete ihm scheinbar die Verpflichtung, während des Krieges auch dann noch streng monoperspektivistische Argumentationen zu publizieren, als seine Wahrnehmung und Deutung des Krieges längst auch zu differenzierteren, komplexeren Ergebnissen führte; so erklärt sich die augenfällige Diskrepanz zwischen öffentlichen Stellungnahmen und diversen privaten Äußerungen.

Umgekehrt bedeute der Krieg dem Künstler die Möglichkeit der Integration: er finde seinen Platz im "schwärmerischen Zusammenschluß der Nation" (S. 193), der nicht als gesellschaftliche Egalisierung, sondern als funktionale Unterordnung unter eine gemeinsame Sache verstanden werden muß.

Und der Krieg solle kathartisch wirken: Die Reinigung der Seele und Erneuerung der Moral solle Künstler wie Soldaten als Exponenten deutscher Kultur in gesteigertem Maße erfassen. Für Mann hatte diese Hoffnung auf Erlösung zutiefst persönlichen Charakter. Die anfängliche Euphorie auf neue Geradheit, Lauterkeit und Haltung, die ihn "nachts nicht schlafen ließ", weist auf eine primäre Wertung des Krieges als persönliches Ereignis hin. Von dieser Disposition ausgehend läßt sich weiterführend fragen, inwieweit der Krieg generell auch von der "Heimatfront" aus (bewußt) als inneres Erlebnis, nicht als äußeres Geschehen wahrgenommen wurde. Gerade bei Thomas Mann bietet sich diese Untersuchung an unter der Hypothese, er könne den Vorgang nur verzerrt "von einer wüthenden Leidenschaft für das eigene Ich" deuten (Heinrich Mann).