Robert Musil: Europäertum,
Krieg, Deutschtum.
[In: Adolf Frisé (Hg.): Robert
Musil. Tagebuch, Aphorismen, Essays und Reden. Hamburg 1955]
An dieser Stelle erfolgt im Rahmen unseres Projekts eine Untersuchung des Essays Europäertum, Krieg, Deutschtum, der von Robert Musil im August 1914 verfaßt und im darauffolgenden Monat in der Neuen Rundschau (Berlin) veröffentlicht wurde.
1. Verhältnis des Textes zum Krieg
Es handelt sich handelt sich hier um einen Aufsatz, der einen klaren Bruch mit früheren und späteren Veröffentlichungen und Äußerungen Musils darstellt und somit quer zu dessen Werk steht: Der Text ist ein mit affektiv stark besetzten Topoi durchdrungener Beitrag Musils zur Kriegspropaganda von 1914. Dem Krieg werden darin Attribute wie Schönheit, Unschuld und Brüderlichkeit zugeschrieben und der Soldat soll dabei Idealen wie "Treue, Mut, Unterordnung [...und] Heldenhaftigkeit" verpflichtet sein. Ein absoluter Kriegstaumel stellt sich indes in Musils Essay dennoch nicht ein: Eine Reihe mehr oder weniger skeptischer Relativierungen deuten darauf hin, daß der Autor mit der Schwierigkeit zu kämpfen gehabt haben könnte, den Krieg als ein neues Phänomen, welches er nicht kennt, anders als mit traditionellen, vertrauten Maßstäben beschreiben zu müssen. Diese These soll kein zaghafter Legitimationsversuch sein, um Musils sog. Ausrutscher' zu entschuldigen. Eine vorschnelle Verurteilung einer augenscheinlich deutlich werdenden blinden Kriegsbegeisterung des Autors ist einer Bewertung und Einordnung des Essays jedoch viel weniger zuträglich.
2. Kulturbegriff
Aussagen wie "Wir im Herzen Europas und mit dem Herzen Europas" verweisen in "Europäertum, Krieg, Deutschtum" auf die Vorstellung einer kulturellen Überlegenheit (vgl. z.B. Borchardt), aus welcher sich laut Musil als elementare Leistung jedes Einzelnen die Aufgabe, "den Stamm zu schützen", ableitet. Der Krieg führt somit im Sinne des Autors in eine Form des pseudoreligiösen Zusammenlebens: Das Verhältnis zu Leben und Tod wird im Krieg (= Zustand der "Urmacht") neu bestimmt. "Man lebt wieder für das Leben, der Tod hat keine Schrecken mehr". Diese Mythisierung der Kriegserlebnisse steht (besonders im zweiten Teil) im Mittelpunkt von Musils Essay.
3. Was ist "modern"?
Der Ansatz Musils, die Funktion des Krieges als transzendent-pseudoreligiös zu bestimmen ist in dieser Form ein Einzelfall im Rahmen der Essay-Veröffentlichungen des Sommers 1914. Das "Moderne" an diesem Text ist - schon im Hinblick auf das inhaltliche Niveau - kaum auszumachen. Bemerkenswert ist an dieser Stelle - etwa im Gegensatz zu Thomas Mann - die Tatsache, daß der Text zwei zeitliche Schienen bedient. Auf der einen Seite steht die Wahrnehmung des Zustandes vor dem Krieg (, welcher nicht als fauler Friede beschreiben wird) und auf der anderen Seite Musils utopische' Transzendenz-Vorstellung im Zusammenhang mit dem Krieg.
Tobias Dengler