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Simone Frank

Wladimir Kaminer: "Russendisko"

Wladimir Kaminer wurde 1967 in Moskau geboren. Er absolvierte eine Ausbildung zum Toningenieur für Theater und Rundfunk und studierte anschließend Dramaturgie am Moskauer Theater-institut. Mit 22 Jahren beschloss er Russland zu verlassen. Ermuntert von seinem Vater Viktor, der als stellvertretender Leiter der Abteilung Planwesen in einem Betrieb der Binnen-flotte tätig war. So kam es, dass Kaminer im Sommer 1990 zusammen mit einem Freund von Moskau nach Berlin emigrierte. Eine Freundin seiner Mutter, die einen Deutschen geheiratet hatte und in Ost-Berlin lebte, war seine erste Anlaufstation. Anfangs wohnte er im Plattenbau-Ausländerheim von Marzahn, kurze Zeit später zog er in eine Wohnung am Prenzlauer Berg. Noch heute lebt er mit seiner Frau Olga und seinen beiden Kindern, Nicole und Sebastian in Berlin. Er veröffentlicht regelmäßig Texte in verschiedenen deutschen Zeitungen und Zeitschriften, wie zum Beispiel der FAZ, der taz und der Frankfurter Rundschau. Auch für die russischsprachige Zeitung Russki Berlin ist er tätig. Ausserdem hat eine wöchentliche Sendung namens "Wladimirs Welt" beim SFB4 Radio MultiKulti sowie eine Rubrik im ZDF-Morgenmagazin und organisiert einmal Im Monat seine inzwischen berüchtigte "Russendisko". Dabei handelt es sich um eine Veranstaltungsreihe mit Lesungen, Filmen und Tanz im Kaffee Burger an der Torstrasse. Der nicht praktizierende Jude ist dort selbst als DJ tätig und gehört zu den Szene-Stars Berlins. Sein Erfolg ist umso beeindruckender, als er erst nach seiner Ankunft begonnen hat Deutsch zu lernen - mit Hilfe des Buches "Deutsches Deutsch zum Selbsterlernen" und eines Kurses an der Humboldt-Universität.

Mit seiner ersten Erzählsammlung "Russendisko" avancierte das kreative Multitalent, das stets in schwarzer Kleidung auftritt, zu einem der beliebtesten und gefragtesten Jungautoren in Deutschland. Es handelt sich dabei um 50 Kurzgeschichten, die thematisch zusammenhängen. Viele der Geschichten tragen kuriose Überschriften wie "Das Mädchen mit der Maus im Kopf", "Russischer Telefonsex" oder "Warum ich immer noch keinen Antrag auf Einbürgerung gestellt habe". Der Ich-Erzähler, ein Jude aus der Sowjetunion, berichtet von seiner Emigration nach Ost-Deutschland und seinen Erfahrungen in Berlin. "Es war eine spontane Entscheidung. Außerdem war die Emigration nach Deutschland viel leichter als nach Amerika: Die Fahrkarte kostete nur 96 Rubel, und für Ostberlin brauchte man kein Visum." (aus: "Russen in Berlin") Wladimir Kaminer berichtet in seinen Kurzgeschichten, die man fast als "Übersiedlungs-Anekdoten" bezeichnen könnte, über den Berliner Alltag, er beschreibt, wie das Zusammenleben von Menschen verschiedener Herkunft auf engen Raum ablaufen kann. So zum Beispiel in dem Kapitel "Die erste eigene Wohnung". "Nachdem mein Freund Mischa und ich im Sommer 1990 als eine aus der Sowjetunion geflüchtete Volksminderheit jüdischer Nationalität anerkannt worden waren, landeten wir auf Unwegen in dem riesigen Ausländerheim, das in Mahrzahn entstand.(…) Das Leben im Heim boomte: Die Vietnamesen besprachen auf Vietnamesisch ihre Zukunftschancen, denn damals wussten sie noch nichts vom Zigarettenhandel. Die Afrikaner kochten den ganzen Tag Kuskus, abends sangen sie russische Volkslieder." Auch von nicht ausbleibenden gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Verwirrungen berichtet der junge Autor. Exemplarisch dafür ein Auszug aus der Geschichte "Geschäftstarnungen". ">>Das sind keine Türken, das sind Bulgaren, die nur so tun, als wären sie Türken<<, erklärte mir Kitup, der auch ein wenig bulgarisches Blut in seinen Adern hat. >>Das ist wahrscheinlich Geschäftstarnung.<< >>Aber wieso tun sie das?<<, fragte ich. <<<, erklärten uns die Verkäufer. Gleich am nächsten Tag ging ich in ein bulgarisches Restaurant, das ich vor kurzem entdeckt hatte. Ich bildete mir ein, die Bulgaren dort wären in Wirklichkeit Türken. Doch dieses Mal waren die Bulgaren echt. Dafür entpuppten sich die Italiener aus dem italienischen Restaurant nebenan als Griechen." Wladimir Kaminer mustert die Multikulti-Gesellschaft Berlins kritisch, betrachtet vor allem "die kleinen Leute", die es nicht leicht haben im Leben, aber dennoch die Hoffnung nie aufgeben. Dazu gehört zum Beispiel "der Fähnrich", der durch eine Scheinehe den legalen Aufenthalt in Deutschland absichern will. Nach einigen Versuchen gibt er die Suche nach einer geeigneten Frau jedoch auf. Die Kurzgeschichten in dem Erzählband "Russendisko" zeichnen sich dadurch aus, dass kuriose und bizarre Ereignisse geschildert werden. Es handelt sich oft um einmalige Ereignisse oder Eindrücke, die den Ich-Erzähler betreffen. In der Geschichte "Russischer Telefonsex" schildert er den Unterschied zwischen russischem und "normalem deutschen Telefonsex." Einige der stories des jungen Russen sind tragisch und komisch zugleich, oft aberwitzig. Viele sind merkwürdig, andere anrührend, regen zum Nachdenken an. Ironie ist durchgehend vorhanden. Das Themenspektrum in dem Erzählband "Russendisko" ist breit. Kaminer informiert über eine Unmenge an Themen. Das Leben und die Eindrücke von Ausländern in Deutschland werden dem Leser mit viel Gefühl nähergebracht. Verständnis für die Lebenssituation wird hervorgerufen. Hinter vielen der Erzählungen befindet sich meiner Meinung nach ein gewisser Grad an Weisheit. So erfährt man unter anderem zum Beispiel, dass es überall auf der Welt Mücken gibt, nur nicht in Berlin. (aus: "Die Mücken sind anderswo") Man lernt, dass die Mediendebatte ganz nebenbei vielen Menschen die Chance gibt, sich neu zu sehen, nicht als Türke oder Russe oder Äthiopier, sondern als ein Teil der großen Ausländergemeinschaft in Deutschland (aus: "Suleyman und Salieri") und man bekommt die Bestätigung, dass Goethe doch Recht hatte und die Liebe immer noch stärker als alles andere ist. (aus: "Nur die Liebe sprengt die Welt") Den Schreibstil des gebürtigen Moskauers könnte man als "unproblematisch und angenehm" bezeichnen. Seine Geschichten bringt er kühl auf den Punkt, dennoch geht sein Blick für Details nicht verloren. Er erzählt in einem lockeren, heiteren und lebendigen Stil, völlig unverkrampft, ohne dabei seicht zu wirken. Mit viel Humor, Selbstironie, Charme, Naivität, manchmal auch Zynismus, wird das Leben des Ich-Erzählers und das seiner Mitmenschen beinahe liebevoll, mit viel Phantasie beschrieben. Dies wird besonders deutlich in dem folgenden Ausschnitt aus dem Kapitel "Beziehungskiste Berlin". Der Ich-Erzähler berichtet über das Liebesleben einer Freundin namens Marina. "Nachdem ihr Mann sie letztes Jahr wegen einer Ballerina sitzen gelassen hatte, deren Ballerino sich plötzlich in München bei einem Gastspiel in die Tochter seines besten Freundes verliebt hatte, die mit 23 Jahren allein und schwanger in tiefste Depressionen verfallen war, weil ihr Freund mit einer schönen Ägypterin durchgebrannt war, und die bei der Reisegesellschaft TUI gearbeitet hatte und auch TUI hieß… Aber zurück zu Marina."

Die Freude am Schreiben und Erzählen, Liebe zum Detail kann man förmlich spüren, wie ich finde. Popliterarische Elemente sind eindeutig vorhanden. Kombination und Aneinanderreihung verschiedener Objekte des Massenkonsums zieht sich durch den gesamten Erzählband. Es ist beispielsweise die Rede von MTV, DSF, Pro-Sieben, Brigitte, der Gruppe Prodigy, dem Film: "Drei Männher im Schnee". Der autobiographische Hintergrund Kaminers spielt meiner Meinung nach ebenso eine bedeutende Rolle in all den Geschichten. Der Autor weiß sehr genau, wovon er spricht, wenn er das Leben eines Ausländers in Deutschland thematisiert, da er sich selbst in derselben Situation befindet. Er nennt reale Schauplätze, die in seinem Leben eine Rolle spielten oder spielen, wie zum Beispiel das Ausländerheim in Mahrzahn oder die Russendisko. Auch seine Arbeitgeber, wie zum Beispiel den Radiosender SFB4 oder die Zeitung Russki Berlin tauchen in den Geschichten auf. Viele der vorkommenden Personen existier(t)en tatsächlich. Kaminer erzählt das, was er selbst erlebt oder beobachtet hat, der Kern seiner Erzählungen basiert auf realen Erlebnissen. "Eigentlich beschrieb ich in meinen Büchern nicht mein eigenes Leben, sondern das von vielen Freunden, Bekannten und Zeitgenossen. Es geht vor allem um die Zeiten und darum, wie sie sich verändern. Ich spiele als Erzähler selbst eine eher nebensächliche Rolle. Es passiert ja mit der Welt unheimlich viel, aber mit den Leuten selbst eher wenig", so Wladimir Kaminer in einem Interview.

Der Erzählband "Russendisko" ist meiner Meinung nach auch geeignet für Leser, die der deutschen Sprache noch nicht so mächtig sind, da die Geschichten relativ kurz und leicht zu verstehen sind. Auch die Thematik ruft mit Sicherheit Interesse bei Deutsch-lernenden hervor, da sie sich eventuell in einer ähnlichen Lebenssituation befinden könnten und mit denselben Problemen zu kämpfen haben. Weitere Informationen über Wladimir Kaminer und sein Werk findet man im Internet unter: www.russendisko.de

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