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Astrid Bischof

Karen Duve: Regenroman. Frankfurt am Main 1999

Bereits vor Beginn der Romanhandlung wird klar, dass es sich bei Karen Duves gelungenem Debüt "Regenroman" nicht um eine Komödie oder um ´leichte Kost` handelt. In den Vorworten zitiert die Autorin einerseits die Bibelstelle, in der Gott die große Sintflut zur Vernichtung der Menschen heraufbeschwört (1.Mose 6, 17), andererseits wird dem Leser suggeriert, dass er sich bei der Lektüre auf seltsame, unerklärliche Phänomene einzustellen hat.

"Das Böse gedeiht an feuchten Stellen", warnt Karen Duve und versetzt ihre Protagonisten, das jungvermählte Ehepaar Martina und Leon Ulbricht, mitten ins ostdeutsche Nirgendwo. So wird bereits am Anfang des Romans die detaillierte Beschreibung einer halbverwesten Wasserleiche geliefert, als sich das Hamburger Pärchen, das sich auf den Weg gemacht hat, um ein Haus zu besichtigen, während einer Pinkelpause roadmovieähnlich durch einen ostdeutschen Schilfdschungel schlägt. Das Ziel der Reise ist letztendlich ein baufälliges, mysteriöses und abgeschiedenes Haus im Moor, in das sich beide kurzerhand verlieben und es kaufen, obwohl sie bereits ahnen, dass auf sie viel Arbeit und Ärger zukommen wird.

Es verwundert nicht, dass sich die Ehepartner durch die beständigen, verzweifelten Versuche, das Haus trockenzulegen, es bewohnbar zu machen und vor dem Versinken im Moor zu bewahren, emotional immer weiter voneinander entfernen. Die Ehe war schließlich schon vor dem gemeinsamen Umzug zum Scheitern verurteilt, da sowohl Leon als auch Martina mit eigenen Problemen zu kämpfen haben:

Dem mittellosen, sexistischen Schriftsteller Leon Ulbricht gilt nichts so sehr wie Prestige, Geld und Macht. Da er seinen einzigen ´Freund` in dem kriminellen Kraftprotz Harry hat, fühlt er sich nicht männlich und wehrhaft genug. Aus seinem Minderwertigkeitskomplex heraus, neigt er dazu, Frauen und ´Nicht-Intellektuelle` zu diskriminieren. Seine Frau Martina hat er dazu gebracht, ihren ´asozialen` Vornamen zu ändern. Das letzte Bisschen der eigenen Identität nahm er ihr schließlich mit der Eheschließung und dem damit einhergehenden Verlust ihres Nachnamens. Er betrachtet sie als vermögendes, dekoratives Anhängsel und behandelt sie im Verlauf der Handlung auch so.

Martina hingegen ist attraktiv und war als Redaktionsassistentin beim Fernsehen erfolgreich, bevor sie ihren Job ihrem Mann zuliebe an den Nagel gehängt hat. Sie ist jedoch gleichermaßen mit sich im Unreinen, leidet unter Schuldgefühlen ihrer religiös-moralischen Familie gegenüber, in der sie nie Anerkennung und Geborgenheit finden konnte. Auf dem Heimweg von der Kirchendisco im Gemeindehaus, hatte Martina sich als 15-Jährige von einem älteren Mitschüler zum Oralverkehr auf dem Schrottplatz ihres Vaters überreden lassen. Sie wurde prompt erwischt, für ihr verwerfliches Verhalten gerügt und von diesem Zeitpunkt an missachtet. Als Mahnmal ihres Vergehens lässt der Vater den gelben Audi, in dem die beiden Jugendlichen zugange gewesen waren, nach und nach auf dem Schrottplatz verrotten, ohne ihn jemals von dort zu entfernen, der Tochter zu verzeihen oder mit ihr über ihr Handeln zu sprechen. Martina fühlt sich vonseiten ihrer Familie missverstanden und alleingelassen und kompensiert ihre Gefühle in Schönheitswahn und Bulimie.

Vier zermürbende Monate lang sehnen sich Leon und Martina in ihrem neuerworbenen Haus im Moor nach Wetterbesserung. Es regnet jedoch fast ununterbrochen und die Renovierungsarbeiten gehen sehr schleppend voran, vor allem weil beide Ehepartner keine handwerklichen Fähigkeiten besitzen. Während Leon sich nicht überwinden kann, mit dem Schreiben an der Biographie seines Auftraggebers Pfitzner, einem alternden Kiez-Boxer, zu beginnen, holt sich Martina den verwaisten Hund "Noah" ins Haus und nimmt Kontakt mit den Leuten der Umgebung auf. Sie beauftragt den ortsansässigen, neugierigen Krämer Kerbel mit Lieferungen und freundet sich mit den beiden verschrobenen Schwestern Isadora und Kay Schlei an. Langsam gewinnt die junge Ehefrau ihr Selbstwertgefühl zurück, als sie von der androgynen Kay lernt, Heimwerkerarbeiten zu verrichten und spürt, dass sie vom neuen Familienmitglied Noah bedingungslos geliebt wird. Kays Schwester Isadora nimmt sich indessen Leons sexuellen Bedürfnissen an.

Die Autorin beschreibt in einer märchenähnlichen, mysteriös-okkulten, bildreichen Sprache, wie sich Leon den Reizen des samtgewandeten, reichgeschmückten und ´schneckenhaft` fetten Körpers der Nachbarin nach einer unheimlichen Wanderung durch die Gefahren des Moores ergibt. Frustriert von Martinas wiedergewonnener Unabhängigkeit war er mit Isadora mitgegangen, in der Absicht, sie sexuell zu demütigen und sich abzureagieren, was an ihrer matronenhaften, übernatürlichen Ausstrahlung scheitert.

Leons Minderwertigkeitskomplex gipfelt in seiner zunehmenden Fettleibigkeit, nachdem er von einem Rückenleiden ans Bett gefesselt und somit nicht mehr in der Lage ist, sich selbst zu versorgen.

Das siebte Kapitel des Romans lässt sich als ´Ruhe vor dem Sturm`, als retardierendes Moment bezeichnen: Der lädierte Leon versucht verzweifelt, sein Haus trocken zu legen, während für kurze Zeit einmal die Sommerhitze auf das Moor herunterdrückt. Die Ruhe, die durch das Aussetzen des Regens entsteht, ist trügerisch. Es liegt eine unheimliche Spannung in der insektengeschwängerten, flirrenden Luft und der Leser kann bereits erahnen, dass die Handlung auf eine Katastrophe zusteuert.

Als Leons Auftraggeber Pfitzner und sein bester Freund Harry auf der Matte stehen, um Leon wegen des versäumten Auftrags auf den Zahn zu fühlen, ist dieser weder körperlich noch psychisch in der Lage, seine Ehefrau Martina vor deren Übergriffen zu beschützen. Hier wandelt sich der poetische, märchenähnliche Stil Duves, der Roman wird zum Krimi. Mit feuchten Händen und offenstehendem Mund sehnt der Leser eine Entspannung der ausweglosen Situation herbei, in der sich die Eheleute durch Verschulden des Ehemannes befinden.

Nach einer brutalen Vergewaltigung durch Leons ´besten Freund` Harry sind es Isadora und Kay Schlei, die Martina zu Hilfe kommen, die beiden Kriminellen töten und aus dem Haus schaffen. So kommt es dazu, dass Martina endgültig ihre Sachen packt, zu den Nachbarinnen zieht und ihren verwahrlosten, fetten Ehemann seinem Schicksal und Selbstmitleid überlässt. Leon und Martina verlieren beide gänzlich ihr Körperbewusstsein. Während die geschändete Frau nicht mehr schön sein will und ihren Körper nur mehr als Maschine empfindet, hat Leon mit sich seinen Frieden gemacht, er hat sich mit seinem sackartigen Körper abgefunden und verlässt nun gar nicht mehr seinen ´Unterschlupf `. Er haust nun selbst wie ein Tier in seinem mittlerweile durch einen Blitz geteilten Haus im Sumpf und findet auch wie ein Tier sein Ende:

Als die Polizei drei Wochen nach dem Ableben Harrys und Pfitzners den Weg zu Leon gefunden hat, bekommt dieser einen mächtigen Schreck und gesteht beinahe. Es stellt sich aber heraus, dass die Polizisten sich lediglich in der Nachbarschaft über Auffälligkeiten bezüglich des Krämers Kerbel erkundigen, der verdächtigt wird, mehrere triebmotivierte Morde an jungen Mädchen begangen zu haben. Das Polizeiverhör gibt dem geistig umnachteten, verlassenen Ehemann nun endgültig den Rest. In einer erotischen, mystischen Vision sieht Leon die fette, sexbesessene Isadora Schlei, die einer paarungswilligen ´Schneckenkönigin` gleich, auf ihn im Morast wartet. Er rennt blindlings ins Moor und fühlt sich in einer Welt voller Dunkelheit und schwellender Weichheit aufgefangen, als er im Moor erstickt.

Seine Frau Martina verlässt die Schlei-Schwestern, nachdem die mannhafte Kay ihr ihre Liebe gestanden hat und der innigst geliebte Hund Noah verschwunden ist. Sie will zurück in ihr altes Leben und glaubt, in den Schoß der Familie zurückkehren zu können. Dieser Versuch ist zum Scheitern verurteilt. Sie steht schließlich auf dem Schrottplatz ihres Vaters, ist kurz davor, ihr Elternhaus zu betreten, wird dann jedoch durch den Anblick des rostigen gelben Audis wieder an die Demütigungen und Entbehrungen ihrer Kindheit erinnert. Sie steckt die verfluchte Karre in Brand und schließt nun endlich mit der quälenden Vergangenheit ab.

Äußerst kunstvoll und sprachgewaltig verbindet Karen Duve unterschiedlichste Erzählgattungen und -elemente zu einem kraftvollen, erbarmungslosen Untergangsepos. Märchenhafte Magie, brutaler ´Sex and Crime`, detaillierte Naturbeschreibung und nüchterner Realismus bestimmen Sprache und Handlung des Romans. Spannender, poetischer und schonungsloser kann ein Stück Literatur kaum sein! Die Autorin thematisiert moderne Beziehungsprobleme durch Entfremdung und Individualismus neben antiquierten Rollenschemata, die heute wie gestern in unserer Gesellschaft bestehen. Sie schreitet allerdings nicht wirklich wertend ein, sondern versucht zunächst, unterschiedliche Lebensmodelle und Gefühlskostüme gleichberechtigt nebeneinander stehen zu lassen. Es darf aber auch nicht verwundern, dass sie rasch für die zum Opfer stilisierte Ehefrau Sympathien weckt

"Wie liest und empfindet ein männlicher Leser dieses Buch ?", wäre hier eine interessante Frage. Ist der "Regenroman" ein Frauenbuch ? Ich denke nicht, denn es ist derart fesselnd und schockierend pessimistisch, dass ´Mann` unter Umständen auf den hundertsten Schwarzenegger-Film aus der Videothek verzichten könnte.

Etwas seltsam muten jedoch zunächst die zahlreichen Anspielungen auf die Bibel an.

Wieso sollte ausgerechnet der Hund Noah der Retter vor der Sintflut sein, ist er nicht Auslöser für Leons Eifersucht und entfremdet die Ehepartner einander immer weiter ? Vielleicht ist das aber so zu verstehen: Martina Ulbricht, ehemals Roswitha Voss, muss aus der Ehe mit dem machtgeilen, sexistischen Versager Leon befreit werden, da sie es nicht aus eigener Kraft schafft. Ist die Sintflut, also der permanente Regen über dem ostdeutschen Moor, ein Zürnen Gottes über Martinas Abkehr von der eigenen Identität und Herkunft?

Das Buch gliedert sich in zehn Kapitel. Vielleicht gibt die Autorin hier einen Verweis auf die zehn Gebote, von denen einige im Laufe der Handlung gebrochen werden.

Leon war es, der Martina dazu gebracht hat, sich von ihrer Familie abzuwenden. Er hat Tausende Schnecken getötet, um die Natur seines Vorgartens zu zähmen. Er hat Martina angelogen, nachdem er sie mit Isadora betrogen hat und diese zur Sex- und Naturgöttin stilisiert hat. Und er hat schließlich dem von Pfitzner geliehenen Mercedes mehr Bedeutung zugemessen, als den psychischen Problemen seiner Frau.

Als Strafe schickt Gott dann die Sintflut, eine Insektenplage und am Ende Sturm und Blitze, die das Haus teilen und schließlich zerstören. Denn der altruistische, lebensmüde Ehemann konnte seine Frau nicht einmal mehr vor der schlimmsten denkbaren Demütigung bewahren, sondern saß in seinem Sessel und sagte nur "He".

Sicherlich klingt eine derartige Interpretation etwas extrem und führt vielleicht zu weit. Wahrscheinlicher scheint, dass die Macht der Natur, sich nicht von einem westdeutschen Städter bezwingen lassen will, sondern mit den Mitteln der Natur (Wasser, Erde, Blitz und Sturm) den Gegner vernichtet.

Allerdings ist es erstaunlich, wie viele unterschiedliche Interpretationsversuche der Roman anbietet, was ihn nur um so interessanter macht, auch wenn einiges unklar bleibt. Und dass die Autorin wirklich eine religiöse Moralkeule schwingt, ist höchst zweifelhaft, wenn die jugendlich-neugierige Martina einem Klassenkamerad einen ´Blowjob` offeriert, oder "Vater, ich habe gesündigt" sagt, als sie sich nach einer Fressattacke den Finger in den Hals steckt. Der Text bietet also durchaus auch gesellschaftskritisches Potential.

Warum Karen Duve allerdings den Ost-West-Konflikt thematisiert, erschließt sich nicht wirklich. Allzu bemüht scheint sie hier den Versuch zu wagen, dieses Problemthema neben so vielen anderen Gesellschaftsproblemen auch noch zu verarbeiten. Gibt es ein Gütesiegel für Gegenwartsliteratur mit der Forderung die Wiedervereinigung mindestens kurz anzuschneiden? Ein Sinn leuchtet mir hier zumindest nicht ein.

Das Ehepaar Ulbricht zieht aus der Gegend um Hamburg in die ostdeutsche Pampa

. Schon wenige Monate später ist die Ehe gescheitert und ein Ehepartner tot. Die Ehefrau hat versucht, sich mit den ostdeutschen Nachbarn anzufreunden, während der Ehemann jeglichen Kontakt mit der Außenwelt zu vermeiden suchte. Warum fügt der ostdeutsche Krämer Kerbel sobald er Leon seinen Bekannten vorgestellt hat, stets an, dass es sich bei dem Zugezogenen nicht um ´den Ulbricht` handelt, sondern nur um irgendeinen Ulbricht? Soll darauf aufmerksam gemacht werden, dass Leon nicht der große Macher ist, sondern ein unmännlicher Versager? Nachdem Leon Ulbricht bereits vor dem Umzug ein unangenehmer Einzelgänger gewesen ist, erscheint eine Veränderung der Person und des Privatlebens durch eine Grenzüberschreitung in den ´dunklen Osten` als ziemlich unmotiviert. Vielleicht ist dies aber auch eine der zahlreichen Bedeutungsebenen und Lesarten des ungewöhnlichen Romans, die sich nicht jedem Leser erschließen.

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