Der Pfau und der Kranich.
Aus: August Gottlieb Meißner, Äsopische Fabeln für die Jugend. Nach verschiedenen Dichtern gesammelt und herausgegeben von A.G.M.
Prag, Leipzig 1791

 

Der Pfau und der Kranich

Der Pfau stritt sich einst mit dem Kranich: Wer von ihnen der vorzüglichere Vogel sei?
"Dein Eigendünkel, brach endlich der Pfau aus, ist doch unbegreiflich. Vergleiche nur meine Federn und die deinigen zusammen, und ich hoffe: die Größe, die Farbe, der Glanz der meinigen muß dich belehren -
"Alles gut! unterbrach ihn der Kranich: nur Schade, daß diese herrlichen Federn zu einer einzigen Sache viel weniger als die meinigen taugen!
"Und zu welcher?
"Zum Fliegen! Oder folge mir, wenn du kanst, bis zum Wolken nach!" - Der Kranich stieg empor; der Pfau schämte sich und blieb zurück, weil er - muste.

* * *

Daß doch niemand stolz auf kleinere Vorzüge sei, so lange noch die größern ihm gebrechen!
Man kann unmöglich schöner sein, als Charlotte war. Oft überhob sie sich deßen gegen ihre Gespielinen.
"Aber verstehst du auch ein Buch zu lesen? Oder der Wirthschaft dich anzunehmen? Oder in welcher andern weiblichen Tugend hast du dich vorzüglich geübt?"
So fragte sie einst eine andre, die weit minder schön war, doch innere Verdienste desto reichlicher besaß. Da schwieg Charlotte beschämt; die Gesellschaft lachte; ein braver Mann wählte diejenige, welche gefragt hatte, zu seiner Gemahlin; Charlotte mochte noch warten.

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